Der Angriffskrieg Russlands entwickelt sich mehr und mehr zu einem Stellungskrieg, mit einem gewaltigen Nachteil für die ukrainische Seite. Russland hat es erst vor wenigen Tagen geschafft den Kessel, um Severodonetsk zu schließen, während die russische Führung es schafft, die NATO-Partner beschäftigt zu halten. Dieser Essay soll sich mit einer möglichen Vorgehensweise beschäftigen, wie die Ukraine im Winter zum Kapitulieren gezwungen werden soll. Dabei handelt es sich nur um eine mögliche Strategie Russlands, es kann auch sein das dieses Szenario nicht eintrifft.
Eine mögliche Strategie Russlands: Psychologische Kriegsführung
Inhalt
Situation der Ukraine
In einer geographischen Betrachtung stellt man schnell fest, wie wichtig die Regionen Luhansk, Donetsk, Kherson und Zaporizhia für die Ukraine sind. Es liegen knapp 90% der Energieversorgungsindustrie innerhalb dieser Gebiete, zudem kommt auch der Winterweizen großteilig ebenfalls dorther.
Zurzeit besetzt Russland 24% der Ukraine, aber 80% der möglichen Energieversorgung und dementsprechend auch einen Großteil der Winterweizenfelder. Betrachtet man diese Realität, hat die ukrainische Regierung das Problem, dass sie 35 Millionen Menschen lebend durch den Winter bringen müssen, während sich die russischen Streitkräfte in dieser Zeit reorganisieren und regenerieren können.
Schaffen es die russischen Streitkräfte diese Stellungen zu halten, ist die Ukraine auf Hilfe angewiesen, da ansonsten Hungersnot und Erfrierung drohen. Ist dies nicht der Fall wird die Regierung früher oder später einknicken und die Bedingungen Russlands akzeptieren müssen, um das Überleben der Bevölkerung zu sichern. Deshalb werden die Verbündeten der Ukraine sowohl Nahrung als auch Gas liefern müssen, dafür bedarf es eine vorhandene Kapazität in den Ländern selbst und eine hohe Solidaritätsbereitschaft.
Behauptung
Das Problem ist, Russland hat es in der Hand, ob und wie viel Gas, aber auch Nahrung geliefert wird. Diese Behauptung soll im Folgenden belegt werden, angefangen bei der Energiezufuhr.
Energieabhängigkeit
Ein Blick auf die Zahlen spricht Bände. Zurzeit bezieht die europäische Union 41.1% der Erdgaszufuhr aus Russland, durch die abgebrochene Nord Stream 2 Pipeline wäre der Anteil verzweifacht worden. Diese Energiezufuhr kann nicht von Seiten der EU gestoppt werden, da nicht wenige Mitglieder ernsthafte Probleme mit der Energieversorgung des eigenen Landes bekommen würden.
Deutschland beispielsweise bezog im Jahr 2021 allein 13,7 % der Energieversorgung aus Erdgas, alles Importe. Ungefähr 65 % dieser Importe kamen aus Russland. Im Unterschied zu Erdöl sind die Erdgas Importe nicht einfach durch andere Länder kompensierbar, weil entsprechende Leitungen fehlen. Der bereits ausgesetzte Import von Erdöl lässt sich einfacher durch andere Partner kompensieren.
Die Folge ist, dass Deutschland selbst, genauso wie viele andere Länder der EU nicht in der Lage sein werden, fehlende Energiereserven der Ukraine auszugleichen. Die europäischen Staaten sind, sollte Russland die Gaspipeline schließen, vollkommen damit beschäftigt sich selbst untereinander versorgen zu können. Auch weil die Energiespeicher aufgrund russischen Zutuns nicht ausreichend gefüllt sind.
Länder wie die USA oder auch Japan wiederum haben nicht die Kapazitäten oder nicht die technische Möglichkeit die Ukraine mit der benötigten Energie zu versorgen. Hinzu kommt, dass Russland es schafft, glaubwürdig den Anschein zu vermitteln, dass die Sanktionen kaum bis keine Wirkung zeigen. Es werden bereits Stimmen laut, dass uns die Sanktionen selbst mehr schaden als Russland.
Solidaritätsproblem
Dadurch ist die Gefahr gegeben, dass in Länder wie Deutschland, im Anbetracht der eigenen Versorgungsprobleme, ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung die Schuld des möglichen Energieengpasses und somit eine potenzielle Stagflation für die Bürger die eigenen Sanktionen dafür verantwortlich machen.
Der Begriff „Stagflation“ wird in diesem Zusammenhang verwendet, um zu verdeutlichen, dass steigende Lebenserhaltungskosten auf die Bevölkerung zukommen, während sie aufgrund der möglichen Energierationierung für die Unternehmen weniger Gehalt erhalten, oder sogar gefeuert werden.
Dieses Problem der Demokratie wurde bereits ausführlich im vorherigen Artikel beschrieben (hier) . Kurzgefasst sind Demokratien abhängig von Mehrheitsverhältnissen innerhalb der Bevölkerung, ein solcher Krisenmodus würde den sozialen Frieden in diesen bedrohen. Deshalb muss die Regierung zwangsläufig alles unternehmen, um zu verhindern, dass die zahlenmäßig große Mittelschicht ihre Kaufkraft verliert.
Eine verzweifelte Person verliert schnell den Glauben an das vorherrschende System und wird sich nach alternativen umsehen. Eine Einladung für jegliche Populisten aus den extremistischen Lagern. Dazu sind die Demokratien auf dieser Welt schon durch die Coronapandemie gebeutelt und die Angst vor einer Wirtschaftskrise herrscht vor, kein guter Zeitpunkt für eine weitere Krise.
Folgen
Die Folge könnte sein, dass es sich die Regierung nicht leisten kann weiterhin umfassende Hilfen ins Ausland zu vergeben. In Anbetracht einer eigenen Notsituation werden die Betroffenen nicht bereit sein weiterhin Solidarität zu zeigen. Sie werden vielmehr verlangen, dass die eigene Bevölkerung finanziell unterstützt wird. Somit würden aber auch benötigte Nahrungslieferungen an die Ukraine ausbleiben und die Sanktionen werden ernsthaft in Frage gestellt.
Ein Beispiel für dieses psychologische Kriegsführung gegen den Westen sind die anstehenden Wartungsarbeiten an Nord Stream 1. Keiner kann mit Sicherheit sagen, ob das Gas erneut fließen wird, aber taktisch wäre es klüger. Im Moment sind die ganzen Medien voll mit Spekulationen, Folgeanalysen und auch Interviews mit Politikern, die die Bevölkerung auf das schlimmste einstellen.
Eine regelkonforme wieder Inbetriebnahme würde Putin die Möglichkeit geben, erneut zu behaupten, er halte sich an Verträge, im Gegensatz zum Westen. Die Folge wäre, dass der Regierung Panikmache unterstellt wird und zudem verschärft die Sanktionen in Frage gestellt werden.
Ist dieses Szenario der Plan der russischen Führung, sieht es so aus, als würde er funktionieren. Um dieses zu verhindern, müssen es die Demokratien bis zum Winter schaffen, ausreichend Energievorräte zu akquirieren und es mithilfe offener Kommunikation der Regierungen schaffen, das Vertrauen der Bevölkerung nicht zu verlieren. Zudem muss glaubwürdig gemacht werden, dass es erstens nicht die Schuld des Systems ist und das Solidarität eine Tugend ist, die man nicht verlieren sollte.