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Jean-Paul Sartre – Der polarisierende Rockstar der Philosophie

 

Der polarisierende Rockstar der Philosophie. Jean-Paul Sartre – The complete collection von Paul Poser!

Bildquelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Government_Press_Office_(Israel) (CC BY-SA3.0)

 

 

Einführung

Eine Philosophie der Revolte beginnt: Wer sich auflehnt, der hat Recht

Zigaretten rauchen, im Rollkragenpullover über den Lauf der Welt diskutieren, in Hotels und Cafés leben und ein freizügiges Liebesleben pflegen. Als französischer Romancier in der Nachkriegszeit lebte es sich nicht schlecht. Schillernde Stars, nichts anderes sind die Existenzialisten im Paris der 40er Jahre. Allen voran Jean-Paul Sartre, gefolgt von Albert Camus und Simone de Beauvoir erlangte die Rockstar Gruppe der Philosophie durch ihren Lebensstil ikonischen Status.

Während die ideologische Fügsamkeit einiger europäischer Philosophen zu den heuchlerischsten und traurigsten Aspekten der modernen Gesellschaft zählt, bricht in Frankreich eine Rebellion einiger Intellektueller aus. Sich abwendend von den klassischen akademischen Methoden des Philosophierens werden aus den drei brillanten Figuren Zeitungsmacher, Dramatiker, Romanautoren und Widerstandskämpfer, die die Gesellschaft und intellektuelle Welt Frankreichs aufmischen. Doch ist die Gruppe um Jean-Paul Sartre auch das entfant terrible im gesellschaftlichen Raum. Als Revolte gegen die Väter Generation beginnend, entwickeln sich die drei Denker zu einer philosophischen Modeerscheinung, die Kritik in allen politischen Lagern hervorruft. Auch im Ausland stoßen Sartres Werke zunächst auf Unmut. Das internationale Auftreten der Existenzialisten hinterließ immer und überall ein gewaltiges Echo.

Doch die drei großen Existenzialisten eint mehr als nur die freizügige Art, mit der sie ihr leben gestalten, denn wir sollten nicht den Fehler begehen, uns vom Trouble und Schein der Bewegung blenden zu lassen. Der große Erfolg, den die drei Schriftsteller verbuchen können, verdankt sich der Qualität ihrer Werke. Die Grundeinsicht der Moderne, dass Gott tot ist und die Welt darum keinen intrinsischen Sinn hat, sahen die Existentialisten nicht nur als Bürde, sondern auch als Chance, so führen sie das Denken auf radikale Art und Weise zurück auf das konkrete Leben.

Der Mensch ist vollkommen frei, sein eigenes Schicksal zu gestalten. Das ist die stark vereinfachte Grundaussage der Existenzialisten. Indem Sartre radikale individuelle Freiheit theoretisch stark begründet erschafft er die theoretischen Grundlagen für die großen emanzipatorischen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Philosophie, gräbt man sich durch die Textwüste seines epochalen Gesamtwerkes, das über 20 000 Seiten umfasst, beinhaltet ein schöpferisches Nein gegenüber der Sinnlosigkeit, eine Negation von höchster positiver Qualität. Sartre sagt dem Bürger den Kampf an, der als braves Rädchen im Getriebe des 19. Jahrhunderts vor sich hin existierte. Kaum verwunderlich, dass Sartre sowohl von links, als auch von rechts zunächst nicht gerne gehört wird. In der Politik benötigt man kein Individuum, dass sich emanzipiert, dass revoltiert, sondern man benötigt Gefolgschaft. So halten die Linken den Existenzialismus Langezeit für weltfremd, die Konservativen für gefährlich. Man wünschte sich den braven Untertan im Hamsterrad der Parteibürokratie.

Das Phänomen Sartre war wie ein gewaltiges Ereignis, ein Vulkanausbruch der brillanten Ideen, ein Bruch im Empfindungsvermögen, ein Erdbeben einer moralischen Revolution. Er war eine Art Ein-Mann-Partei, eine monumentale Gestalt. Mit seiner Philosophie zog er ins Feld gegen den fertigen Menschen. Macht die Bühne frei und den Vorhang auf für einen der letzten großen Helden der europäischen Geistesgeschichte.

 

Inhaltsangabe

Biographie

Das Leben eines Genies

Die Leben der drei Philosophen kreuzten sich in Paris, aus ihrem Verhältnis ging eine gesamte philosophische Bewegung hervor, trotzdem wird versucht, sich im Folgenden auf Sartre zu fokussieren.

1905 wird Sartre in Paris geboren in eine bildungsbürgerliche Familie geboren. Nach dem Abitur nimmt Sartre ein Studium an der École normale superieure auf. Zum Ende seines Studiums lernt Sartre Simone de Beauvoir kennen. Die beiden schließen einen Pakt, der den Beginn einer unkonventionellen, lebenslangen Partnerschaft markiert, der beiden erlaubt, auch Beziehungen mit anderen Partnern einzugehen. 1931 beginnt Sartre, als Gymnasiallehrer zu arbeiten. Er bekommt ein Stipendium in Berlin und macht sich mit der Philosophie von Husserl und Heidegger vertraut. 1938 veröffentlicht Sartre seinen in autobiografischen Zügen geschriebenen Roman „Der Ekel“, sein schriftstellerischer Durchbruch und Beginn einer großen Karriere, die auch dadurch nicht unterbrochen wird, dass Sartre zum Kriegsdienst eingezogen wird und 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät, aus der er 1941 wieder entlassen wird. Denn seine schriftstellerischen Tätigkeiten stellt er in dieser Zeit nicht ein.

Der Krieg bildet die große Trennungslinie, im Lebenslauf Sartres, er teilt Sartres Leben regelrecht in zwei Teile. Der Sartre vor dem Krieg war ein vom Politischen losgelösten Denker, den das Öffentliche wenig interessiert hat, der sich von den gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Epoche kaum betroffen fühlte. Sein Denken vor dem Krieg war auf das Individuum gerichtet, während der Sartre nach dem Krieg ein politisch engagierter Aktivist ist, der das geistige Gewissen Frankreichs und der westlichen Welt darstellt. Durch die Kriegsgefangenschaft findet Sartre das Kollektiv und die Solidarität unter den Mitmenschen. Er erlebt, wie das epochale Schicksal über das individuelle hinwegfegt und spürt die Verbundenheit und Brüderlichkeit mit den anderen Kriegsgefangenen. Die Philosophie Sartres in der Nachkriegszeit kann als Versuch gedeutet werden, seinen individualistischen Ansatz der Existenzphilosophie auf das Kollektiv und gemeinsame politischen Handeln zu transformieren.

1943 veröffentlicht Sartre „Das Sein und das Nichts“, das zum theoretischen Hauptwerk des Existenzialismus werden wird. Ein Jahr zuvor erscheint Albert Camus Roman „Der Fremde“ und erregt großes Aufsehen in Frankreich. Die beiden sind zusammen mit Simone de Beauvoir nun endgültig in den hohen Kreisen der Pariser Intellektuellen angekommen. Sartre und Camus treffen sich erstmals bei den Proben zu Sartres Theaterstück „Die Fliegen“, eine Freundschaft entsteht, die später zerbricht, weil sich Sartre dem Kommunismus zuwendet. 1956 folgt die gewaltsame Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, der Sartre dazu veranlasst, sich scharf vom Stalinismus der Sowjetunion zu distanzieren. Vier Jahre später veröffentlicht Sartre sein zweites philosophisches Hauptwerk „Die Kritik der dialektischen Vernunft“. 1964 erhält Sartre den Nobelpreis doch lehnt ihn ab, weil er nicht zum Gefangenen einer bürgerlichen Ehrung gemacht werden möchte. 1980 stirbt Jean-Paul Sartre in Paris, zum Trauerzug finden sich schätzungsweise 50 000 Menschen ein.

 

Philosophie

Existenzialismus

Eine viel zu kurze und daher ungenaue Geschichte des Existenzialismus

 

Eine gesamte philosophische Strömung auf nur wenigen Seiten zusammenzufassen ist eine undankbare Aufgabe, weil unweigerlich komplexe Sachverhalte verkürzt dargestellt werden müssen. Deshalb sollte darauf hingewiesen werden, dass diese Sammlung keinen Anspruch auf Vollständigkeit stellt und im Folgenden nur einen groben und vereinfachten Überblick über den Weg der Philosophiegeschichte zum Existenzialismus gegeben wird.

Sartre reist 1933 nach Berlin, um sich mit den deutschen Phänomenologen vertraut zu machen: Husserl, Heidegger und Hegel: Das sind die drei transnationalen Denker, deren Namen man sich merken sollte und die an der Wiege des Existentialismus stehen. Der Sartre der Vorkriegszeit entzieht sich mit Gleichgültigkeit den historischen Ereignissen in Deutschland, denn er ist auf der Suche nach einer neuen Philosophie. So hat er nichts übrig für die konkrete Welt, er schreibt nicht über die Beginne des Nazi-Regimes, sondern taucht tief hinein in die Lektüre Husserls.

Doch eigentlich fängt alles schon viel früher an: Mit Friedrich Nietzsche. Nietzsche versucht verzweifelt, sich der Herausforderung zu stellen, in einer Welt zu leben, in der Gott tot ist. Denn genau das ist eine der Kernaussagen Nietzsches: Gott ist tot, platonische und christliche Werte sind somit obsolet geworden also lasst uns etwas neues versuchen. Und das kann als Ausgangspunkt des sartreschen Existenzialismus gelten: Gott ist tot. Um die Sache zu verkomplizieren gibt es aber auch christliche Existenzialisten wie Jaspers oder Gabriel Marcel, doch soll im Folgenden eher auf die atheistischen Denker, wie Heidegger, Sartre oder Camus Bezug genommen werden.

Weiter geht es mit Kierkegaard, der als großer Wegbereiter für Sartres Rockstar-Gruppe verstanden werden kann: Kierkegaard versucht, das Leiden an der eigenen melancholischen Befindlichkeit mit Einsichten in wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz zu verbinden und macht das autonome Individuum zur Grundlage einer individuellen Ethik. Klingt nach Existenzialismus? Ist es im Grunde genommen auch.

Nun betritt ein Denker die Bühne, der bis heute einer der umstrittensten Denker ist: Martin Heidegger. Heidegger, der der verschulten Philosophie den Kampf ansagte, findet im Bereich der akademischen Philosophie kaum mehr Gehör. Für Heidegger ist der Mensch ein Wesen, das anders als alle anderen Lebewesen um seinen Tod weiß. Das menschliche Subjekt, das Heidegger das Dasein nennt, ist auf die Möglichkeit des Nichts und des Todes ausgerichtet. In seinem virtuosen Werk „Sein und Zeit“ entfaltet Heidegger seinen Begriff der Existenz. Heidegger denkt die Phänomenologie nicht nur als Beschreibung der Welt, sondern als Interpretation des Sinns, den der Mensch der Welt gibt. Das „Dasein“ ist das, was dem „Seienden“ einen Sinn gibt durch die Frage nach dem Sein, durch seine existenzielle Interpretation der Welt. Das „Seiende“, also die Dinge, haben keinen Sinn an sich, sie haben nur einen Sinn durch die Frage, die ihnen eine „Existenz“ stellt. „Die Existenz“ ist das, was den Dingen einen Sinn gibt. Es ist diese Interpretation der Phänomenologie, für die sich Sartre entscheiden wird. So ist Heidegger seinen französischen Nachfolgern doch sehr nah. Auch wenn man ihn nicht als Existenzialisten bezeichnen kann, ist er auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz in einer Welt, die durch die Gesetze der Technik und des Marktes bestimmt werden.

Zusammengefasst: Martin Heidegger beschreibt die menschliche Existenz als In-der-Welt-Sein, als Sein zum Tode, das sich um das Sein sorgen muss: Das Dasein ist Entwurf, der in die Welt geworfen ist. Und somit bereitet er den Weg für Karl Jaspers, der sich mit den Grenzsituationen menschlicher Erfahrung befasst, der dadurch dann den Weg frei macht für unsere französische Rasselbande, angeführt von Jean-Paul Sartre.

Doch Sartre erkennt, dass Heidegger sich von jeglichen Formen des konkreten Handelns distanziert. An die Stelle einer humanistischen Theorie, die dem Menschen eine zentrale Wichtigkeit einräumen würde, setzt Heidegger die Wahrheit des Seins und inszeniert sich als „Hirt des Seins“, der vom Unmittelbaren gelöst ist. Wenn das gefährlich klingt dann deshalb, weil es gefährlich ist. Um 1933 möchte Heidegger „metapolitische“ Konsequenzen aus seiner Philosophie ableiten. Heideggers Antisemitismus geht kohärent mit seiner Philosophie, denn er gibt dem Antisemitismus einen ontologischen Sinn. So greift er die schlimmsten Vorurteile seiner Zeit auf und spricht den Juden den Zustand im Seienden ab, weiter denkt er, dass nur einige Auserwählte, so wie Hitler, dem deutschen Volk einen Sinn des Seins zurückgeben, weil sie sich Zugeständnissen an Technik oder Kommerz verweigern. So unterliegt ein großer Denker einem großen Irrtum, der zeigt: Philosophie ist von Menschen gemacht. Und Menschen können sich irren, ganz gleich wie groß ihre Philosophie ist, deren Größe man im Falle Heideggers sicherlich anerkennen muss. So sollten wir Heideggers Antisemitismus in aller Schärfe verurteilen, und dennoch nicht den Fehler begehen, sich deshalb mit dem komplexen Werk Heideggers nicht weiter zu beschäftigen.

Und so schlägt sich ein Wegabschnitt der Philosophiegeschichte über Nietzsche zu Husserl, Kierkegaard und Heidegger und wird fortgeführt über Karl Jaspers, um schließlich im Paris der Nachkriegszeit und dem französischen Existenzialismus zu landen. Am philosophischen Kern des Existenzialismus angekommen fragen wir uns nun, wie wir den Begriff Existenzialismus definieren können, um den die drei Helden unserer Geschichte wie Sterne kreisen.

Der Begriff Existenzialismus ist kein klar umrissenes, festes Wort, sondern beschreibt eine philosophische Strömung. Strömungen vereinen viele verschiedene geisteswissenschaftliche Grundhaltungen und Denkansätze. Insgesamt jedoch kann der Existenzialismus als der Versuch einer Überwindung des Nihilismus angesehen werden. Der Nihilismus beschreibt philosophische Anschauungen, die von der Nichtigkeit und Sinnlosigkeit der Existenz ausgeht. Meist durch die Prämisse vorausgehend, dass es kein göttliches Wesen gebe, beschreibt der Nihilismus daher weltanschauliche Haltungen, die alle positiven Zielsetzungen, Ideale oder absoluten Werte ablehnt. Der Existenzialismus räumt der gelebten Existenz den Vorrang ein. Er lehnt es ab, diese Erfahrung auf ein gegebenes Konzept, einer Definition oder eine Essenz zu reduzieren. Der Existentialismus stellt so den Gegenpart zum Essentialismus dar. Der Mensch ist in die Welt geworfen, er hat sich die Welt nicht ausgesucht. Die Gesellschaft mag zwar sein Leben vorgezeichnet haben, doch er kann aus den gegebenen Strukturen ausbrechen. Er hat nicht ein bestimmtes Wesen, eine bestimmte Essenz, die er leben und ausfüllen muss. Somit geht die Existenz der Essenz voraus. Das ist sowohl die berühmte Losung als auch das Versprechen, das alle Existenzialisten vereint. Damit widerspricht Sartre den meisten Philosophien und Religionen, deren Ansätze meistens kollektivistisch geprägt sind und ihren Anhängern ein bestimmtes Menschenbild und Lebensmodel vorzeichnen.

Die Modeerscheinung des französischen Existenzialismus, deren Wichtigkeit nicht zu unterschätzen ist, eint zumindest die Auffassung, dass der „l’esprit sérieux“ (zu übersetzen als Respektabilität/Status) die Ursünde ist. Der „seriöse“ Mann der bürgerlichen Gesellschaft denkt über sich selbst als Chef, Mitglied, Ehemann und Vater. Indem er so über sich denkt bewegt er sich in engen karrieristischen Grenzen und stimmt der Identifikation seiner selbst mit einer willkürlichen, von der Gesellschaft geschaffenen Rolle zu. Diesem Menschenbild sagt die Rockgruppe um Sartre nicht nur durch ihre philosophischen Freiheitsentwürfe, sondern auch durch ihre revoltierende Lebensweise den Kampf an.

Zur detaillierteren Erklärung der Philosophie Sartres und somit des französischen Existenzialismus verweisen wir auf Sartres komplexes philosophisches Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“.

 

Albert Camus

Der Scottie Pippen des Jean-Paul Sartre?

„Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet.“

Albert Camus (Der Mythos des Sisyphos)

Michael Jordan, für viele der beste Basketballspieler aller Zeiten, gewann in den 90er Jahren mit den Chicago Bulls sechs NBA Meisterschaften und prägte somit nicht nur eine gesamte Epoche des Basketballs, sondern stieg auch als Ikone der westlichen Popkultur auf. Gerade deshalb bietet sich ein Vergleich zwischen Jordan und Sartre an. Der eine mehr als nur ein Basketballer, der andere mehr als nur ein Philosoph. Beide ragten sie über das, was sie waren hinaus. Sartre durch seinen freizügigen Lebensstil, Jordan über seine Bedeutung in der modernen Streetwear Szene und Popkultur. Doch ist der Vergleich auch deshalb sinnvoll, weil sowohl Jordan als auch Sartre auf den ersten Blick zwar jeweils die Epizentren ihrer Universen darstellten, doch bei näherer Betrachtung zwei weitere Männer auffallen, die hinter ihnen stehen, doch einen großen Anteil am Erfolg der zwei Superstars verbuchen können. So sagte einst Michael Jordan über seinen Mitspieler Scottie Pippen: „Whenever they speak Michael Jordan, they should speak Scottie Pippen.“ Pippen, einer der besten Flügelverteidiger seiner Generation war die klare Nummer zwei im Team und verzichtete auf einen erheblichen Teil des Rampenlichts, um gemeinsam Erfolg zu haben. So ähnlich könnten wir das Verhältnis zwischen Sartre und Camus auch beschreiben, was nicht bedeuten soll, dass Camus sich mit einer untergeordneten Rolle zufrieden geben musste. Doch Sartre war der Superstar der intellektuellen Pariser Szene, Und Camus stand neben ihm. Deshalb müssen wir uns zwangsläufig mit Albert Camus beschäftigen, wenn wir das Phänomen Sartre verstehen möchten.

In seinem berühmten philosophischen Essay „Der Mythos des Sisyphos“, der um die zentrale Frage kreist, ob das Leben die Mühe, gelebt zu werden, lohnt oder nicht, entwickelt Camus seine Philosophie des Absurden, das Spannungsverhältnis zwischen Sinnwidrigkeit der Welt und der menschlichen Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit. Doch von vorne: Welche Gemeinsamkeiten weisen Sartre und Camus in ihren philosophischen Entwürfen auf, und welche Unterschiede kennzeichnen die beiden Denker?

Gemeinsamkeiten

Zunächst einmal gehen beide vom Fehlen eines metaphysischen Fundaments für unsere Existenz aus. Kurz gesagt, die beiden sind sich einig: Das Leben hat keinen höheren Sinn. In dieser radikalen Abwesenheit von Sinn stellen die beiden fest, dass zwei Pole bestehen bleiben: auf der einen Seite die Welt und die Dinge in ihr, auf der anderen Seite der Mensch. Diese zwei Pole stehen für Camus in einem Spannungsverhältnis, weil das Absurde nicht einfach nur Sinnlosigkeit, sondern Sinnlosigkeit für jemanden, der nach dem Sinn fragt, ist. Das Absurde zeugt also stets von einer Beziehung zwischen jemandem, der nach Sinn fragt, und einer Welt, die keine Antwort gibt. Für Camus liegt das Absurde nicht im Menschen als solchen oder in der Welt als solcher, sondern nur darin, dass Mensch und Welt zusammengeworfen sind. So ist das Absurde nicht die Abwesenheit von Sinn, es ist die Unmöglichkeit, ihn zu finden, wenn man ihn sucht, so ist die Welt an sich nicht absurd, sondern nur deshalb absurd, weil wir von ihr absurderweise fordern, human zu sein, also uns Sinn zu geben. Für beide passen Mensch und Welt demnach nicht zusammen. Der Mensch ist das einzige „Ding“ in der Welt, dass offensichtlich nicht dorthin gehört, denn er existiert nicht als Ding unter Dingen, oder als Tier unter Tieren, sondern ist grundsätzlich allein in seinem Denken, das ihn lächerlich macht, denn die Gabe der Vernunft wurde ihm verliehen in einer Welt, „wo alles gegeben ist und nichts je erklärt wird“.

Camus und Sartre verabscheuen diejenigen, die vorgeben, eine Antwort zu kennen, die Metaphysiker oder Religionsanhänger, die betrügen, wenn sie vom Absoluten sprechen. Für beide steht fest: Wer behauptet, es gäbe eine Antwort, lügt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Farge nach dem Sinn deshalb nicht berechtigt ist. Gegen die nihilistische Versuchung stellen sich die beiden, denn die Frage nach dem Sinn ist ein Akt des Widerstands gegen die Sinnlosigkeit. auf das Absolute verzichten, und ebenfalls darauf verzichten, deshalb nicht nach dem Warum zu fragen, das ist es, was die beiden eint.

Die Welt ist absurd und sinnlos, diese Tatsache stellen die Existenzialisten an den Nullpunkt ihres Denkens. Für Camus folgt daraus erst die Revolte, dann eine Form der Zustimmung: Wir müssen die Absurdität auf uns nehmen. Viel stärkere Folgen ziehen Sartre und Beauvoir aus der Sinnlosigkeit: Sie mag zum Verzweifeln sein, aber sie impliziert auch, dass wir, von keinem Gott gelenkt oder geschaffen, vollkommen frei sind, unser Leben selbst zu entwerfen. Doch  erkennen wir bei den beiden eine Gemeinsamkeit, die bei fast allen Existenzialisten festzustellen ist: Eine wütende Weigerung, die Welt und mit ihr einhergehende Sinnlosigkeit für den Menschen hinzunehmen. Beide gehen von einer in dunkelsten Zeiten erfahrenen abgründigen Verlorenheit der Existenz aus. Der eine deutet sie als das Absurde, als unentrinnbare Sinnlosigkeit, der andere als unausweichliche Freiheit und Verantwortung.

Unterschiede

Die Absurdität der Existenz und die Ablehnung des esprit sérieux sind für beide Ausgangspunkte. Camus scheint daraus eine Philosophie des Absurden zu entwickeln, während Sartre auf eine neue positive Philosophie und sogar einen neuen Humanismus hinzuarbeiten scheint. Camus entwirft in seinem philosophischen Konzept eine Art hochmütigen Trotz, mit der das Leben gelebt werden soll, ein Trotz, der auf Vernunft beharrt, obwohl er weiß, dass auch die Vernunft scheitern wird und nichts erklären kann, ein Trotz, der darauf besteht, dass Vernunft  und die Würde des Menschen die höchsten Werte bleiben. Das absurde Leben besteht demnach darin, unentwegt gegen alle Umstände zu rebellieren und jeglichen Trost zu verweigern.

Sartre jedoch will trotz der totalen Sinnlosigkeit in der Welt die individuelle Freiheit des Menschen philosophisch begründen. Auch wenn die Freiheit keinen Sinn an sich hat, muss der Mensch zu seiner eigenen Freiheit stehen, denn sie hat einen Sinn für den Menschen. Nach und nach verortet Sartre Freiheit nicht nur in der Welt, sondern in der Geschichte, und entdeckt ein radikales revolutionäres Projekt wieder: Den Sozialismus. Sartre ist zwar gegen den dogmatischen Marxismus, dennoch ist er der Meinung, dass eine Forderung nach Gerechtigkeit alleine nicht genügt, sondern so weit wie möglich realisiert werden muss, Sartre setzt sich ein Projekt mit einem absolutistischen Ziel, und Camus erkennt die Gefahr: Sartres totalisierendes Projekt droht in den Mythos zurückzufallen und alles erneut zu rechtfertigen, ein Projekt, das im Namen der Geschichte bereit ist, Allianzen einzugehen, die Camus ablehnt. Auch wenn Sartre jegliche Politik, die freiheitliche Grundrechte einschränkt, ablehnt, so geht er dennoch weiter als Camus es tut in Richtung eines Handelns, dass der Geschichte und dem Leben Sinn geben kann, Camus hingegen setzt der Gewalt und dem Nihilismus den Widerstand des Warums entgegen. Camus bleibt Idealist und Antikommunist während Sartre bemüht ist, sich von seinem ursprünglichen Individualismus zu lösen und den Kommunisten anzunähern.

1951 veröffentlicht Camus „Der Mensch in der Revolte“, mit dem er kritisiert, dass die Freiheit im Sozialismus in Ferne gerückt sei. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Sartre, der sich zu dieser Zeit immer stärker für den Kommunismus engagiert. Mit dem politisch gemäßigteren Camus kommt es darüber zum Bruch. Als Persona non grata wird der einst in die Pariser Intelligenz immigrierte Aufsteiger aus Algier nun aus deren Mitte verbannt.

 

Simone de Beauvoir

die feministische Existenzialistin: Ihrer Zeit voraus

Natürlich spiegelt sich die rebellische Ablehnung des esprit sérieux der französischen Existenzialisten auch in den Beziehungen wider. Sartre und Beauvoir lebten eine offene Beziehung miteinander, eine einzigartige Lebensgemeinschaft in einer von restaurativem Zeitgeist geprägten Welt. Sartre legte keinen Wert auf eine bürgerliche Existenz und Beauvoir verstand sich vor allem als Schriftstellerin und dazu gehörte, dass sie weder Ehefrau noch Mutter sein wollte. In Zeiten, in denen es gesellschaftliche Norm war, dass eine Frau erst in der Ehe Sex haben sollte und von der erwartet wurde, sich aus politischen oder wirtschaftlichen Sachverhalten rauszuhalten, ist das Lebensmodell einer Simone de Beauvoir also ein rebellischer Tabubruch. Die Idee einer freien Liebe ebenso wie die feministische Forderung nach der Befreiung von traditionellen Geschlechterrollen wären ohne Simone de Beauvoir, ohne ihre philosophischen Ansätze aber auch ohne ihre Lebens- und Beziehungsformen, nicht denkbar.

In ihren frühen moralphilosophischen Aufsätzen aus den vierziger Jahren widmet sich Beauvoir nicht nur der Frage, wie wir angesichts äußerer Einschränkungen trotzdem an der Idee unbegrenzter Freiheit festhalten können, sondern auch dem für ihr späteres politisches und feministisches Engagement zentralen Problem, inwieweit unsere Freiheit auch die Freiheit der anderen voraussetzt. So denkt sie sehr früh über die Freiheit des Individuums in Verbindung mit der Freiheit und Befreiung anderer nach.

Keineswegs bleibt sie dabei im Schatten ihres Partners Sartre. Im Gegenteil: Mit ihrer Ethik der Geschlechterverhältnisse ebnet sie den Weg für die zweite Frauenbewegung und steigt so zur schriftstellerischen Ikone einer jungen feministischen Bewegung auf. 1949 erschafft Simone de Beauvoir mit ihrem epochalen Hauptwerk „Das andere Geschlecht“ eine monumentale Phänomenologie der weiblichen Existenz, das die theoretischen Grundlagen für den modernen Feminismus schafft und sich nahe an dem existenzialistischen Gedanken der Freiheit in Verbindung mit Verantwortung bewegt. Weit mehr als Sartres marxistisch gewendete Freiheitsmetaphysik und Camus‘ trotziger Weltschmerz ist es Beauvoirs Idee einer Eigenverantwortlichkeit für das Geschlechtliche, welche das Erbe des Existenzialismus bis heute darstellt. Die Frauenbewegung ist die tiefgreifendste und nachhaltigste soziale Bewegung des französischen Existenzialismus, und das ist, sowohl theoretisch begründet als auch praktisch gelebt Simone de Beauvoirs verdienst.

 

Hauptwerke

„Geschlossene Gesellschaft“

Die Hölle sind immer die anderen!

Das brillante Drama von Sartre beginnt in der Hölle, die zunächst ganz anders erscheint, als wir es uns vorstellen würden: Ein angemessen möbliertes Hotelzimmer. Drei Menschen, die auf ihre eigene Weise schreckliche Sünden begangen haben, finden sich nach ihrem Tod dort ein: Die reiche Estelle, die lesbische Postangestellte Inès und der Journalist Garcin. Alle drei werden sich bewusst, dass sie sich in der Hölle befinden, und stellen sich auf schlimme Qualen ein, doch die erwartete Folter bleibt aus. Tastend versuchen sie voneinander den Grund für die Höllenfahrt zu erfahren, ohne jedoch ihre eigene Schuld zu offenbaren.

Erst allmählich wird allen klar, dass sie selbst zu ihren eigenen Folterknechten bestimmt sind und eine teuflische Qual in Gang setzen, indem sie sich gegenseitig ihre Lebenslügen entreißen. Ihre Leben sind abgeschlossen und jede Person kann nur noch das sein, als das er oder sie lebte. Jede Form der Verstellung ist unmöglich, und wir sehen, was hinter verschlossenen Türen vor sich gehen würde, wenn die Menschen den Schutz sozialer Rollen hinter sich lassen müssten. Und da sie bereits tot sind gilt auf ewig: „Die Hölle sind die anderen.“ Nacheinander versuchen alle, aus dem Hotelzimmer Gefängnis auszubrechen, doch als sich die Tür zur Freiheit öffnet, drängen sich wieder aneinander und niemand verlässt den Raum.

„Die Hölle, das sind die anderen“, sagt Garcin, weil Selbsttäuschung und Unaufrichtigkeit aufgehoben sind. Die dramatische Analyse der menschlichen Beziehungen unter diesen Bedingungen zeigt deren Hoffnungslosigkeit: Liebe, Sexualität und Anerkennung als grundlegende Motive der zwischenmenschlichen Bemühung sind zum Scheitern verurteilt. So verneint das Drama jegliche Möglichkeit, echte Verbundenheit oder unschuldige Beziehungen zwischen Menschen aufkommen zu lassen.

 

„Die Fliegen“

Der Himmel ist leer, und der Mensch frei

„Wenn einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist, können die Götter nichts mehr gegen diese Menschen.“

Das Stück „Die Fliegen“ wird 1943 im besetzten Paris uraufgeführt. Es greift ein antikes Motiv, den Orest-Mythos, um daran seinen Freiheitsbegriff zu entwickeln. Der Mutter- und Königsmörder Oreste kehrt in seine Heimatstadt zurück, um sie vom Regime, das Egisthe mit Jupiters Billigung errichtet hat, zu befreien. Oreste tut das Notwendige und nimmt das von der Stadt gefürchtete Töten auf sich.

Jupiter möchte Orest zur Reue bringen und ihn zur Unterwerfung unter die göttlichen Gesetze überreden. Doch erkennt Jupiter in Orestes Weigerung, den göttlichen Gesetzen zu gehorchen, dass sich die Zeit der Götter dem Ende naht. Jupiter hat zwar die Natur geschaffen und die Natur richtet sich nach den von Jupiter eingerichteten ewigen Gesetzen, aber indem Jupiter, also Gott, den Menschen geschaffen hat, hat er ein Wesen außergewöhnlicher Art geschaffen, ein Wesen, das dem Schöpfungskreis in einem gewissen Sinn philosophisch sprengt, ein Wesen, das frei ist, und das deswegen die Möglichkeit hat sich dem göttlichen Einfluss zu entziehen. Die transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen, also der leere Himmel, bringt Sartre auf den Punkt, indem er Oreste sagen lässt: „Es war nichts mehr am Himmel, weder gut noch böse, noch irgendeiner, um mir Befehle zu erteilen.“ So ist Oreste dazu verurteilt, kein anderes Gesetz zu haben als sein eigenes. Es ist klar, was Sartre uns mittteilen möchte: Weder die Götter, noch die Gesellschaft, noch die Religionen oder Ideologien können uns Richtlinien und Normen geben, um unser Leben frei zu gestalten.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Oreste zu Jupiter sagen muss: „Plötzlich ist die Freiheit auf mich herabgestürzt und ich habe mich ganz allein gefühlt inmitten einer kleinen harmlosen Welt, wie einer, der seinen Schatten verloren hat.“ So sagt uns Sartre, dass uns die Erkenntnis der Freiheit auch ein Stück weit einsam macht, sie fällt uns zur Last, denn es ist immer bequemer, unmündig zu sein und sich seines Verstandes mit Leitung eines anderen zu bedienen,

Der Mensch, so Sartre trägt in seinem Bewusstsein eine Verneinung, die es ihm unmöglich macht, mit sich selbst eins zu werden, die Essenz ist nicht gegeben, nicht wie die Existenz und die Welt gegeben ist. Weil der Mensch eine Verneinung in sich trägt, ist er ein Schöpfer. Wird sich der Mensch über sein Bewusstsein und dessen gewaltige schöpferische Möglichkeiten klar und gibt die Sehnsucht auf, wie ein Ding mit sich selbst identisch zu sein, so erkennt er, dass er von nichts und niemanden außer sich selbst abhängig ist und dass er frei sein kann. Mit diesem Drama schreibt Sartre gegen die Besatzungsmacht des Nationalsozialismus und Vichy-Regimes an. Der in dem Stück entwickelte Freiheitsbegriff wird in Sartres philosophischem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ theoretisch ausgeführt. Jupiters macht basiert darauf, dass die Menschen nicht wissen, dass sie eigentlich frei sind. Und das will Sartre den Franzosen verdeutlichen.

 

„Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie“

Das Hauptwerk einer gesamten philosophischen Bewegung entsteht

In Sartres philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie“ (erschienen 1943), das zugleich auch als Hauptwerk des französischen Existenzialismus gilt, definiert Sartre die Schaffung eines eigenen Wertekosmos ohne Rücksicht auf Autoritäten, gesellschaftliche Normen oder moralische Konventionen als Hauptaufgabe des Seins. Das Werk kann als Antwort auf Heideggers „Sein und Zeit“ verstanden werden. Heidegger versucht in seinem Werk, am Menschen das zu beschreiben, was über den Menschen hinausgeht, wohingegen Sartre genau an diesem Punkt eine Gefahr sieht: Wenn es etwas gibt, das über den Menschen hinausgeht, dann wird es möglich, in dessen Namen den Menschen wie eine Sache zu behandeln, Sartre erkennt, dass in Heideggers Idee des „Seins zum Tode“ schreckliche Massaker verübt werden können.

Sartre fängt in dem über 1000 Seiten umfassenden Werk, das eine komplexen Terminologie aufweist, mit der Beobachtung an, dass das Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, also dass das Bewusstsein als auf ein Sein gerichtet entsteht, dass nicht es selbst ist. Das ist der Ausgangspunkt seines Konzeptes, womit er dem vorherrschenden humanistischen Denktraditionen widerspricht, für die ein vorgegebenes menschliches Wesen aus Vernunft und Moralität dem individuellen Sein jedes Menschen vorausgeht. Für Sartre ist das individuelle Bewusstsein nicht derart vorgeprägt, sondern richtet sich nach außen, somit hat es kein Wesen, sondern vorerst nur eine Existenz. Eine Essenz muss sich das Bewusstsein, das heißt jeder Mensch überhaupt erst schaffen, indem er sich nach außen richtet und sein Leben selbst entwirft. Derart kommt Sartre zur berühmtgewordenen These, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Das ist der theoretische Kern Sartres Werk, und somit der Kern, um den sich der Existenzialismus bewegt. Kurz zusammengefasst: Der Mensch ist nicht von vornherein durch die Gemeinschaft oder transzendenten absoluten Werten festgelegt, sondern frei, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Das ist eine radikale Idee, die in den Zeiten inmitten der Ideologien und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit des Widerstandes zum Nationalsozialismus theoretisch stark begründet.

Weiter stellt Sartre die Behauptung auf, dass die menschliche Existenz durch die Fähigkeit der Verneinung gekennzeichnet ist, also durch das Vermögen, etwas radikal zu verweigern oder sich dagegen zu entscheiden, um sich für etwas anderes öffnen zu können. Dieser Ansatz setzt eine unausweichliche Verantwortung aller Menschen für ihre Entscheidungen voraus und postuliert eine absolute, atheistische Freiheit. Sartre nennt dieses menschliche Vermögen, sich auf Möglichkeiten hin zu entwerfen, die zukünftig sind, also noch nicht da sind, Transzendenz. Durch dieses Vermögen der Transzendenz, so Sartre, ist der Mensch nicht ein für alle Mal auf eine bestimmte Form des Seins festgelegt, das Vermögen der Transzendenz ist das Vermögen, die Faktizität, also die nackten Fakten meiner Existenz zu überschreiten, nämlich durch den Entwurf, den ich vollziehe und bilde.

Wie schon erwähnt bleiben für Sartre in einer gott- und sinnlosen Welt zwei Pole bestehen: Die Welt und deren Dinge auf der einen Seite, und der Mensch, beziehungsweise das Bewusstsein auf der anderen. Anders als der transzendente Mensch, der im Modus des Für-Sich existiert, also nicht mit sich selbst identisch ist, existieren die weltlichen Dinge, also alles gegenständliche, nicht-menschliche Sein in der Art des An-sich. Dieses An-sich ist mit sich selbst identisch. Beispielsweise ist ein Tisch nur das, was er ist. Einem Ding kommt somit keine Transzendenz zu, ein Tisch ist ein Tisch, dafür wurde er gemacht, er kann sich nicht überschreiten, er kann sich nicht selbst gestalten.

In Analysen alltäglicher Situationen zeigt Sartre in „Das Sein und das Nichts“, dass sich die Freiheit in allen Bezügen des Seins aufdrängt, und dass der konkrete Bezug zum anderen ihm erst diese Verantwortung aufzeigt.

Besonders bemerkenswert erscheint hier die Untersuchung des menschlichen Blickes, mit der sich für Sartre die Dimension des Kollektivs öffnet, das ihn zu einer Entwicklung einer Sozialphilosophie treibt. Der Sartre des reinen Vorkriegsindividualismus entdeckt die Dimension des Mit-Seins, die Tatsache, dass der Mensch auf den Mitmenschen verwiesen ist in einer tragischen aber auch glückhaften Weise. Denn obgleich der Mensch frei und verantwortlich ist, so ist er das nach Sartre nicht für sich allein, sondern immer auch gegenüber anderen Menschen. Das erlebt jeder einzelne in der konkreten Begegnung mit anderen. Wenn mich der andere anblickt, dann fühle ich mich beurteilt als derjenige, der gesehen wird, wie er ist. Meine Entwürfe und Vorhaben sieht der andere natürlich nicht. Er reduziert mich auf mein Ansichsein und raubt mir damit meine Freiheit.  Allerdings brauche ich dieses Urteil, um zu erfahren, wie ich auf andere wirke und um mich selber beurteilen zu können.

Sartre charakterisiert in diesem epochalen Werk die schwere Bürde der Freiheit, denn in einer absurden und sinnlosen Welt müssen wir uns selbst bestimmen und entwerfen, müssen einen Sinn in die Welt und unser Schaffen hineinlegen, müssen das eigene Leben positionieren, es gibt keine Alternative dazu, wir sind dazu verdammt. Die biologische Existenz bekommen wir geschenkt, doch die wahre Essenz, das was uns als handelndes und freies Wesen ausmacht, die können nur wir selbst verwirklichen.

 

„Die Kritik der dialektischen Vernunft“

Marxismus und Existenzialismus vermischen sich

In seinem 1960 erschienenen Werk „Kritik der dialektischen Vernunft“ versucht Sartre, die marxistische Dialektik mit dem Existenzialismus und dessen Betonung der individuellen Freiheit zu verbinden. Das auf Grund der komplizierten hegelianischen Terminologie für den Laien fast unlesbare Werk ist der Versuch einer Synthese aus Existenzialismus und Marxismus und kreist somit um die dem Text zugrunde liegende Frage, wie wir uns von der Isolation des Individuums befreien und gemeinsam handeln können.

Sartre fragt sich, wie man eine bewegte und kollektiv realisierbare Vernunft darstellen könnte, und gelangt zu dem Schluss, dass wir Gruppen bilden müssen. Indem wir uns, oft durch eine äußere Bedrohung, zu gemeinsamen Handeln entschließen, überwinden wir die bloße Serialität, also reine Quantität unserer Anzahl, die uns zu austauschbaren Gliedern macht, und können sie als Instrument zur gemeinsamen Praxis nutzen. Wenn das gelingt begegnen wir uns nicht mehr als andere, sondern als gleiche, weil jeder das gleiche wie ich tue, und ich das gleiche tue, was jeder tut.

Doch Sartre stellt fest, dass Gruppen zwar oft als revolutionäre Bewegung beginnen, sich aber häufig zu starren Parteien entwickeln, die nur noch existieren, um sich selbst zu erhalten. Die Institutionalisierung, Bürokratisierung und Hierarchisierung der Parteien, als notwendige Schritte ihrer Selbsterhaltung können schließlich zu Personenkult und Diktatur führen. Daher müssen, so Sartre, immer wieder neue Gruppen gebildet werden, um aus dem Zustand der reinen Serialität, also aus dem Gesetz der Quantität, die lediglich eine Aneinanderreihung von Individuen ist, auszubrechen, so wie wir auf individueller Ebene immer wieder die Anstrengung unternehmen müssen, aus dem Zustand der bloßen Existenz auszubrechen.

Gruppenfreiheit ist für Sartre ein schnell vorübergehender Handlungsspielraum. Gruppen finden sich, Gruppen gehen wieder auseinander, sie formieren sich ständig neu, werden institutionalisiert oder zerfallen. Die Gruppe ist eine vorübergehende, sich stets neu strukturierende Erscheinung. Doch vor allem, so die Botschaft Sartres, sind Gruppen der Motor der Geschichte. Kurz: Nur als gemeinsam handelnde Wesen im Kollektiv sind wir stark.

 

„Der Existentialismus ist ein Humanismus“

Eine Zusammenfassung der existenzialistischen Idee

„Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.“

Der Essay „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ enthält im Kern die gesamte existenzialistische Philosophie. Hier entwirft Sartre einen kämpferischen, tief durchdachten Humanismus. In dem berühmten Vortrag betont Sartre nicht nur, wie sehr sein Freiheitsgedanke auf der von Nietzsche festgestellten Tatsache beruht, dass Gott tot ist, sondern geht auch auf das für ihn zentrale Konzept der „Unaufrichtigkeit“ ein, also der Weigerung, sich der eigenen Freiheit zu stellen.

Für Sartre gibt es keine höhere Macht oder überirdischen Schaltplan, nach dem unser Leben verlaufen wird. Unser Leben ist von Sinnlosigkeit umgeben, im Absurden eingebettet. So findet sich der Mensch nicht nur grundsätzlich in die Welt geworfen, sondern auch in eine jeweilige Situation mit spezifischen Zwängen. Und doch hat er die Möglichkeit, sich zu dieser Situation aktiv zu verhalten und sein Leben selbst zu entwerfen.

Der Essay ist für Interessierte, die sich näher mit dem Thema beschäftigen wollen, sehr zu empfehlen, weil er keine Kenntnis über die sonst recht komplexe Terminologie voraussetzt.

 

Jean-Paul Sartre und der Marxismus

Sartre, seine Irrtümer und seine zeitlos gebliebene Genialität

Ist Existenzialismus heute überhaupt noch aktuell? Existenzialisten sind wir heute alle, heißt es immer wieder. Ja, Gott ist tot, die Welt ist sinnlos und der Mensch frei, wir haben es verstanden, Herr Sartre. Was damals eine Rebellion, eine Revolte, ein Aufbegehren in Denken und Handeln darstellte, ist heute zur Normalität verkommen. Die Prämissen der Rockstar-Gruppe sind heute nicht mehr so revolutionär wie damals. Und außerdem kann es sich keiner mehr leisten, jeden Tag in ein Café zu gehen.

All das könnte man behaupten, doch damit macht man es sich zu leicht. Denn Sartre bleibt sowohl in Denken als auch in Handeln ein Vorbild als ein unablässiger Kämpfer gegen die Unmenschlichkeit. Wo immer Unrecht geschah, und wo immer Menschenrechte verletzt worden waren: Sartres Ein-Mann Partei erhebt seine Stimme. Und lesen wir seine Texte, erhebt sich diese Stimme auch weiterhin.

Beispielsweise setzt sich Sartre für die Befreiung Algeriens vom französischen Kolonialismus ein, währt sich insgesamt gegen den Kolonialismus und bleibt selbst dann bei seiner Kritik, als er von nationalistischer Seite hart angegriffen wird. Er rebelliert gegen die bürgerliche Gesellschaft, auch in den Kreisen, in denen es mutig ist, dies auszusprechen. Weil seine Existenzphilosophie in radikaler Weise mit überkommenen Ordnungssystemen und Kategorien bricht, wird er lebenslang angefeindet.

Sartres Absicht, zu bestimmten gesellschaftlichen Veränderungen in der Gesellschaft beizutragen ist eine Art zu denken und zu handeln, die eine Vielzahl der heutigen Philosophen, insbesondere diejenigen, die von oben herab aus dem Elfenbeinturm ihrer akademischen Lehre schauen, verloren hat. Es geht darum, auf der Karriereleiter empor zu steigen, eine Professur zu bekommen und sich einen Namen zu machen. Diese Haltung verabscheut Sartre und kämpft gegen sie an, er ist ein Rebell, er lässt sich nicht vereinnahmen. Auch nicht von den Linken, die darauf bedacht waren, in zum Funktionär der Arbeiterbewegung zu stilisieren. Er bleibt stets ein Koalitionär der Linken und politisches Irrlicht, das sich zwischen den Fronten bewegt.

Die Annäherung an den Marxismus

Die Kriegssituation ist für Sartre, wie für viele Menschen seiner Zeit, die einschneidende Erfahrung in seinem Leben. Der individualistisch denkende Sartre der Vorkriegszeit muss sich nun der Frage stellen, wie er den in seinen Werken entwickelten Freiheitsbegriff leben und politisch umsetzen kann. Nicht mehr nur individuell, isoliert frei sein, sondern historisch wirksam werden, das will Sartre. Wenn die Welt absurd ist und der Suizid keine Lösung, dann bleibt nur die Revolte, so Camus. Doch Sartre sieht die Möglichkeit zur politischen Aktion. Diese Möglichkeit treibt ihn zu einer Annäherung an den Marxismus.

Bisher wird die marxistische Idee vom kollektiven Klassenkampf her gedacht, denn der Marxismus steht in der Tradition, die von Ganzheiten ausgeht. Sartre hingegen versucht, eine neue Form des Marxismus zu entwickeln: Die Freiheit des einzelnen ist die Voraussetzung für die Freiheit aller. So kommt er zu der Frage, wie sich individualistische existenzialistische Freiheitsideale mit marxistischer Systemkritik verbinden lassen.

Auch wenn der stalinistische Kommunismus entgegen seinen Freiheitsvorstellungen steht, denn existenzialistisches Freiheitsverständnis und marxistisch-leninistischer Dogmatismus passen nicht so recht zusammen, versteht Sartre, dass er  innerhalb der historischen Situation politisch wirksam werden muss. So muss das politische Engagements Sartres weniger als ein marxistisches betrachtet werden, sondern eher als Versuch, seine existenzialistische Freiheitsidee politisch umzusetzen. Bald schreibt Sartre eine Lobeshymne auf den Staatssozialismus, die er später mit der Kritik an der Sowjetunion wieder revidiert, dann neigt er wieder den Splittergruppen der Maoisten zu. 1956 marschieren die Sowjets in Budapest ein und wendet sich daraufhin entschieden vom Kommunismus ab. Der politische Sartre sieht ein, einen Fehler gemacht zu haben.

Wie alle politischen Philosophen ist er auch von kapitalen Irrtümern und Fehlern in seinem Denken nicht befreit. Mit der Demut um das Wissen, dass wir in dieser Sammlung Philosophen betrachten, die vermutlich schlauer gewesen sind als wir es sind, sollten wir nie ehrfürchtig vor ihren Werken erstarren. Philosophie ist Menschenwerk, und trägt uns ein Sartre auch in unbekannte Höhen des Denkens, sollten wir nicht den Fehler begehen, die Augen vor seinen zu verschließen. Auch sollte man die gefährliche Nähe zu alten Vorstellungen in seiner Philosophie benennen. Die nihilistischen Elemente von Sartre und Camus rühren nicht von neues Einsichten her, sondern sind verstrickt in alte Ideen.

Doch trotz alledem wurde meiner Ansicht nach der revolutionäre Elan dieser Autoren nicht vom Erfolg gebrochen, denn sie blieben immer ihren Hotelzimmern und Cafés, ja ihrer Lebenshaltung treu. Dies muss nicht bedeuten, dass wir die Lebenshaltung oder Mode kopieren müssen. Wenn wir noch heute nach Paris ziehen, uns auffällig kleiden, nicht arbeiten, im Café leben und verwirrende Sachen von uns geben, dann mögen wir vielleicht als Existenzialisten gelten, doch mit Sartre hat das alles wenig zu tun. Ja, der Existenzialismus war eine Modeerscheinung, doch sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: Die Werke. Wir sollten Sartre ehren, indem wir ihn lesen, über seine Fehler nachdenken, versuchen seine Großartigkeit vom Denken her zu begreifen. Eine Großartigkeit, die zwar im schillernden Paris der Nachkriegszeit ihren Platz, doch in den epochalen Werken Sartres ihren Ursprung fand.

 

Hinweise

  1. Sartre schrieb viele große Werke. Die Heraushebung und Analyse einiger weniger Werke wird dem Gesamtwerk Sartres nicht gerecht und entspringt der Idee, die wichtigsten oder interessantesten Werke auszuwählen, um Anhand dieser die Grundprämissen des französischen Existenzialismus erklären zu können.
  2. Es wurde eine Vielzahl an Primär- und Sekundärliteratur verwendet. Hauptsächlich wurden die im Text genannten Primärtexte und die Sonderausgabe des philosophischen Magazins zum französischen Existenzialismus verwendet.

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