Nudging: Neue Form der Politik? In der modernen Zeit werden wir ständig mit neuen Herausforderungen, aber auch neuem Wissen konfrontiert. Dank umfassender psychologischer und soziologischer Untersuchungen verstehen wir menschliches Verhalten mittlerweile viel besser als noch vor wenigen Jahren, wodurch sich unser Menschenbild substanziell gewandelt hat.
Währenddessen basieren die vorherrschenden ökonomischen und politischen Modelle noch auf dem Menschenbild des „homo economicus“, ein vereinfachtes und veraltetes Modell, dass sich mit dem aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft nicht mehr vereinen lässt. Gleichzeitig fußen weittragende politische Entscheidungen auf diesem veralteten Modell. Es ist also längst an der Zeit neue politische Instrumente zu adaptieren, die dem wissenschaftlichen Fortschritt entsprechen.
Das Instrument des Nudging, basiert auf den aktuellen Erkenntnissen der Dual-Process Theory und kann für politische Entscheidungsträger eine neue Dimension eröffnen. Das Instrument hat sich in diversen Case-Studies bereits empirisch bewiesen und wird immer breiter eingesetzt, mittlerweile sogar vereinzelt von Staaten. Nudging ist auf dem aufsteigenden Ast, weshalb dieser Essay einen kurzen Überblick auf das Instrument des Nudging liefern möchte und dabei zudem noch einen kleinen Einblick in die dahinterstehende Philosophie zulässt.
Inhaltsverzeichnis
Dual-Process Theory
Kognitive Biases und Heuristiken
Econs & Humans: Menschenbilder
Libertarian Paternalism
Nudging
Nudging in Governance
Nudge Klassifizierung
Nudging in der Praxis
Fazit
Quellen
Menschenbild und Philosophie
Dual-Process Theory
Eine der populärsten Theorien für die Denkweise des Menschen ist die Dual-Process Theory, die spätestens seit dem Buch Daniel Kahnemanns (Thinking, Fast and Slow) als vorherrschende Theorie Rund um das menschliche Entscheidungsverhalten gesehen werden kann. Nach der Theorie besteht unser „Denken“ aus zwei individuell verschiedenen, aber interagierenden Systemen.
Für Kahneman ist unser Denken von der Intuition geleitet, diese bildet unser erstes System (Automatisches System). Das klassische rationale Denken hingegen bildet das reflexive System. Das Automatische System funktioniert dabei im Gegensatz zum reflexiven System völlig unterbewusst, intuitiv und ohne Aufwand und nimmt somit einen großen Teil im menschlichen Verhalten ein. Dem entgegen steht ein kontrolliertes, reflexives System, dass allerdings dadurch langsam, nur mit Aufwand funktioniert und somit „teuer zu nutzen“ ist. Durch diese Voraussetzungen ist es nur logisch, dass unser Automatisches System für die meisten unserer Entscheidungen im Leben verantwortlich ist.
Mithilfe dieses Beispiels Kahnemans lässt sich das Konzept der beiden Systeme anschaulich erklären.
„An individual has been described by a neighbor as follows: “Steve is very shy and withdrawn, invariably helpful but with very little interest in people or in the world of reality. A meek and tidy soul, he has a need for order and structure, and a passion for detail.” Is Steve more likely to be a librarian or a farmer?“ (Thaler & Sunstein 2021)
Die meisten Menschen würden intuitiv librarian antworten. Das liegt daran, dass wir intuitiv ein Bild von Steve in unserem Kopf erstellen. Dieses Bild betrachtet die Charakteristika (schüchtern, zurückhaltend, etc.) und vergleicht sie mit unserer Vorstellung eines Bauern und eines Bibliothekars. Dabei werden andere Faktoren nicht bedacht. So gibt es in den USA fünfmal mehr Bauern als Bibliothekare, einen Fakt, den unser automatisches System nicht bedenkt. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit somit höher, dass Steve ein Bauer ist.
Eine wichtige Erkenntnis ist, dass reflexive Prozesse durch genügend Training Teil des automatischen Systems werden können. Im Sport sprechen Spitzensportler beispielsweise von musclememory, also der Fähigkeit unter Wettkampfbedingungen gewisse Routinen abzurufen. Diese Fähigkeit befähigt Top-Speerwerfer sich im Wettkampf nicht aktiv damit beschäftigen zu müssen, wie denn der Speer jetzt richtig geworfen wird. Ein Neuanfänger hingegen besitzt diese Fähigkeit nicht.
Allgemein betrachtet können also Denkprozesse nicht universal in eine der beiden Systeme gesteckt werden, es handelt sich um individuelle veränderbare Kategorien. Für den einen mag das Wechseln einer Glühbirne intuitiv sein, während es für den anderen einen aktiven Denkprozess erfordert. In dem vorangestellten Beispiel hat es der Top-Speerwerfer geschafft die Technik durch ständiges Wiederholen (Üben) von einer aktiven zu einer intuitiven Bewegung zu transformieren.
Die Idee einer Dual-Process Theory ist dabei keine neue. Erstmals tauchte sie 1890 auf. In der Folge gab es einige veränderte und weiterentwickelte Versionen dieser „originalen“ Theorie. Kahnemans Dual-Process Theory baute wohl auf der originalen Theorie auf und setzte dabei den Fokus auf die Folgen dieser auf das menschliche Verhalten.
Kognitive Biases und Heuristiken
Wie das vorherige Beispiel bereits gezeigt hat, nutzen wir unsere Vorstellungen eines Bauern und Bibliothekars, um die Beschreibung von Steve damit abzugleichen. Unser intuitives System verwendet in diesem Fall Stereotypen, um schnell ein Urteil fällen zu können. Allgemein beobachtet nutzt unser intuitives System Faustregeln, Stereotypisierung und weitere Formen von assoziativen Zusammenhängen. Diese Vereinfachung von komplizierten Zusammenhängen hat dabei den unliebsamen Nebeneffekt, dass sie häufig zu voreingenommen Urteilen, Vorhersagen und schlussendlich (statistischen) Fehlern führt (Andrei 2012). Einige der am weitesten verbreiteten Fehleinschätzungen unseres ersten Systems wurden von Kahneman in seiner Arbeit identifiziert. Diese lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen (Kahneman 2011).
Informationsdefizitbedingte Heuristiken
Beschreibt die Vorgehensweise von Menschen bei Problemen, wenn die relevanten Informationen nicht vorhanden oder fehlerhaft sind. Dabei wurde durch Experimente bewiesen, dass objektiv unabhängige numerische Zusammenhänge hergezogen werden, um eine Schätzung abzugeben. Diese Beobachtung wurde in Kahnemans Werk anchoring heuristic genannt. Werden Individuen mit Schätzfragen konfrontiert, suchen sie sich einen „Anker“, um von dort aus in einem Prozess der „Anpassung“ eine Schätzung zu formulieren (Das Phänomen nennt sich deshalb auch anchoring and adjustment process).
Das spannende dabei ist, dass dieser Anker häufig objektiv völlig irrelevant für die Frage ist. Um die anchoring heuristic zu modellieren:
In einem Beispiel wurden Studenten individuell zuerst nach den letzten drei Ziffern ihrer Handynummer gefragt, bevor die Frage gestellt wurde, wann der Hunne Atilla in Europa einfiel. Die Antwort auf die zweite Frage unterschied sich im Schnitt um 300 Jahre, abhängig von der Höhe der drei Endziffern der Handynummer (Thaler & Sunstein 2021).
Informationsverarbeitungsbedingte Biases
Beschreibt die Vorgehensweise von Menschen bei Problemen, wenn alle relevanten Informationen verfügbar sind. Das spannende ist, dass unser automatisches System auch dort mentalen Biases unterliegt. Nach Andrei (2012) vernachlässigen wir Informationen in unserem Entscheidungsverhalten. Das geschieht besonders häufig bei Faktoren wie Glück.
Betrachten wir die Situation der Überflutungen im Ahrtal. Die meisten Menschen sind dabei erst viel zu spät aus ihren Häusern geflohen, selbst als die Anzeichen einer Überflutung schon deutlich erkennbar waren. Dieses Verhalten lässt sich mit Sicherheit nicht auf eine Ursache zurückführen, dennoch wird der Availability bias eine Rolle gespielt haben. Dieser besagt, dass wir die Wahrscheinlichkeit eines Events daran messen, inwieweit uns ähnliche Events in den Sinn kommen. Im Falle der Überflutungen im Ahrtal werden die Bewohner die Wahrscheinlichkeit des Ausmaßes aufgrund fehlender Erfahrungswerte grundlegend unterschätzt haben.
„One of the most widely shared assumptions in decision making as well as in social judgment research holds that people estimate the frequency of an event, or the likelihood of its occurrence, by the ease with which instances or associations come to mind.“ (Schwarz 1991)
Eine Auswahl weiterer alltäglicher Biases:
Loss aversion | Die Neigung einer Person Verlusten mehr (negative) Bedeutung zukommen zu lassen als Gewinnen. |
Status-quo Bias | Die Neigung einer Person einen aktuellen Status beizubehalten, selbst wenn ein Wechseln Vorteile, oder neue Optionen mit sich bringen würde. |
Confirmation Bias | Die Voreingenommenheit einer Person Informationen eher zu akzeptieren, wenn sie die eigenen Meinungen oder Schlussfolgerung bestätigen. |
Choice Overload | Die Anwesenheit von zu vielen Auswahlmöglichkeiten für eine Entscheidung wirkt überwältigend und macht es so schwierig diese zu bewerten und zu entscheiden. |
Information Overload | Die Anwesenheit von zu viel Information in der näheren Umwelt zieht den gleichen Effekt wie der Choice Overload mit sich. |
Econs & Humans: Menschenbilder
Diese Idee, dass wir Menschen im Entscheidungsverhalten systematisch Fehler machen, ist konträr zur Vorstellung des homo economicus (kurz: Econ. Nach Thaler & Sunstein: Begriff für der Mensch als homo economicus). Dieses Menschenbild geht von einem rational handelnden Menschen aus, der nur auf positive (Ressourcen) und negative (Restriktionen) Anreize reagiert und mithilfe dieser beeinflusst werden kann. Auf diesem Menschenbild (Econ) basiert die Theorie des Liberalismus. Dieser geht davon aus das wir zu jederzeit die „rational beste Entscheidung für uns treffen“. Die Dual-process Theory stellt diese These in Frage. Die Annahme ist, dass wir viele Entscheidungen mit unserem automatischen System getroffen werden. Dieses System One trifft aufgrund der mentalen Biases und Heuristiken Entscheidungen, die systematisch fehlerbehaftet sind, also eine rationale Entscheidung zu einer anderen Entscheidung führen würde.
Fassen wir kurz zusammen. Das Menschenbild des Human basiert auf der Dual-Process Theory. Diese geht davon aus, dass wir Menschen zwei kognitive Systeme besitzen: Ein automatisches und ein reflexives. Ersteres funktioniert unterbewusst, intuitiv und führt zu schnellen Entscheidungen. Deshalb sind die meisten alltäglichen Denk- und Entscheidungsprozesse auf dieses System zurückzuführen. Allerdings ist dieses, konträr zur Vorstellung des Econ aufgrund der Beschaffenheit der Denk- und Entscheidungsweise systematisch fehlerbehaftet. Das philosophische Modell des libertarian Paternalism (von Thaler & Sunstein) geht auf dieses Menschenbild zurück.
Libertarian Paternalism
Aufbauend auf diesem Menschenbild haben die beiden Autoren Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein ihr philosophisches Konzept des Libertarian Paternalism entworfen. Übersetzt würde das Konzept wohl „Freiheitsbevormundung“ heißen, augenscheinlich ein Gegensatz. Nach Thaler und Sunstein ist das Ziel des Ansatzes, dass die Menschen die Entscheidungen treffen, die sie unter „optimalen“ Umständen getroffen hätten. Dabei spielen sie auf die kognitiven Fehler unseres automatischen Systems an. Der Mensch ist für sie also kein homo economicus, sondern vielmehr ein homo sapiens (human).
Wenn in einem Supermarkt ein Produkt auf Augenhöhe liegt, wird es öfter gekauft. Wenn ein Streaming Abo aktiv gekündigt werden muss, wird es seltener gekündigt. Wenn in der Nachbarschaft größtenteils Photovoltaikanlagen auf den Dächern sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Rest nachzieht.
Die Besonderheit liegt darin, dass wir uns der Beeinflussung stets aus freien Stücken entziehen können. Es hält uns niemand davon ab das Produkt auf dem untersten Regal zu kaufen, es gibt dennoch die Möglichkeit das Streaming Abo direkt zu kündigen, der Hausbesitzer kann sich dennoch aktiv gegen eine Photovoltaikanlage entscheiden. Diese Bedingung könnte als Grundsatz des Libertarian Paternalism Ansatzes verstanden werden.
„Libertarian paternalists want to make it easy for people to go their own way; they do not want to burden those who want to exercise their freedom.“ (Thaler & Sunstein 2021)
Nudging: Neue Form der Politik?
Der Ansatz des Libertarian Perternalism möchte dieses Wissen anwenden, um uns in die „richtige“ Richtung zu lenken. Nach Thaler und Sunstein kann dafür das Nudging ein mögliches Konzept darstellen. Nudging ist somit nichts anderes als ein bewusstes Ändern der choice Architecture für unser automatisches System, ohne aber eine aktive Entscheidung dagegen einschränken zu wollen. Nudging wird auch schon seit Jahren erfolgreich von Marketing-Abteilungen benutzt, siehe das Beispiel mit der Standardoption bei Streaming Diensten oder der bewussten Produktanordnung in Supermärkten.
Der Ansatz des Libertarian Paternalism möchte es uns also ermöglichen rational bessere Entscheidungen für unser automatisches System attraktiver aufzuarbeiten. Die Methodik dahinter nennt sich Nudging, also auf Deutsch anstupsen.
Um Nudging zu verstehen, muss zunächst geklärt werden was ein Choice Architect ist. Im weiteren Sinne könnte gesagt werden, dass ein Choice Architect jeder ist, der in einem gewissen Moment das Entscheidungsverhalten einer anderen Person beeinflusst. Das kann der Schaufenstergestalter sein, die Person, die entscheidet wo was in Einkaufsregalen hinkommt, aber auch der Freund, der einem zwei Schokoladentafeln anbietet. Ein Choice Architect im engeren Sinne hingegen, ist sich bewusst, dass er die Entscheidung von Personen beeinflusst! Für den Geschäftsmann, der aktive Choice Architecture betreibt ist die Goldene Regel wohl Nudges zu implementieren die den größten Profit ermöglichen. Konzentrieren wir uns allerdings auf politische Entscheidungsträger lautet die Goldene Regel nach Sunstein und Thaler: “Offer nudges that are most likely to help and least likely to inflict harm”.
Nudging in Governance
Nudging hat dabei nicht den Anspruch eine alternative Governance darzustellen, vielmehr ist es ein weiteres Werkzeug für Regierungen, um gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zu fördern und gesellschaftsbelastendes Verhalten zu vermindern. Instrumente wie Restriktionen oder Subventionen sollen also nicht abgeschafft werden, es erweitert sich nur der Möglichkeitshorizont. Zudem könnten vorhandene Instrumente mithilfe von Nudging bessere Ergebnisse liefern. Diese Voraussetzungen verinnerlicht ist Nudging nach den Autoren in folgenden Entscheidungssituationen besonders attraktiv.
- Bei Entscheidungen die selten Aufmerksamkeit brauchen
- Bei Entscheidungen, die schwierig sind
- Bei Entscheidungen, die kein sofortiges Feedback liefern.
Ob die Vorsorgeuntersuchung beim Arzt oder der Termin zur Klausuren Anmeldung. All das sind Ereignisse, die in einem längeren Zeitintervall in nur einer kurzen Zeitspanne unsere Aufmerksamkeit benötigen. Nur zu häufig kommt es allerdings vor, dass wir unregelmäßig auftretende Ereignisse schlichtweg vergessen oder wichtige Telefonate aufschieben.
Wir besitzen nur eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne und sind häufig zerfahren. Möchte ein Unternehmen, wie der Zahnarzt beispielsweise das wir einen neuen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung ausmachen, erhalten wir eine zeitlich passende Erinnerung. Diese Aktion des Zahnarztes ist ein effektiver Nudge, um uns zur Aktion zu bewegen. Dem entgegen stehen Unternehmen, die davon profitieren uns in die Vergesslichkeitsfalle laufen zu lassen. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass es keine Nicht-Beeinflussung unseres Entscheidungsverhaltens gibt.
Ein weiteres Beispiel für eine Aktivität, die selten Aufmerksamkeit bedarf sind Wahlen. In Deutschland wählt eine Person wohl maximal einmal im Jahr (Gemeindewahl, Kommunalwahl, Bundestagswahl). Gleichzeitig lebt eine Demokratie von der Wahlbeteiligung, bedeutet sie doch höhere Legitimität.
Ein Nudge könnte helfen beim Verzichten auf Temptation-goods. Dazu zählt beispielsweise rauchen, viel Alkohol trinken, ungesundes Essen. Die Glücksgefühle, die diese Produkte uns geben, sind augenblicklich während die Konsequenzen zeitlich versetzt bemerkbar werden. Gleichzeitig macht es diese Entkopplung wiederum so schwierig aufzuhören, bedeutet es doch akuten Verzicht auf ein Glücksgefühl ohne einen direkt ersichtlichen positiven Effekt.
Umgekehrt hingegen fällt es uns generell schwer Investment-goods langfristig durchzuziehen. Ein gesunder Lifestyle benötigt sehr viel Selbstdisziplin und Selbstmotivation, während positive Veränderungen immer nur über die Zeit ersichtlich werden. Hier ist es genau umgekehrt, akuter Verzicht und spätes Glücksgefühl.
Ein weiteres Beispiel bietet Rentenvorsorge. Was in Amerika die Regel ist, ist längst auch in Deutschland nötig geworden, die private Rentenvorsorge. Gleichzeitig ist es ein Investment das früh gestartet werden muss, um profitabel zu sein, ohne dass der Mehrwert sofort ersichtlich ist. Diese Entkoppelung von Aktion und Gewinn macht es für unser automatisches Denken schwerer sich darauf einzulassen, weil die Einzahlung sich zunächst für unser System wie ein Verlust anfühlt: Loss Aversion. Gleichzeitig sollte es im Sinne der Regierung sein, dass die Bürger ausreichend Vorsorgen und ihr Geld anlegen, entlastet es doch den Sozialstaat.
Nudge Klassifizierung
Die erste Version von Thaler und Sunsteins Buch „Nudge“ (2008) inspirierte viele Gruppen oder Individuen mit verschiedensten Hintergründen und Motiven Case Studies zu konkreten Anwendungsfeldern zu entwerfen (Rookhuijzen & Vet 2021; Van der Meiden & Kok 2019; Heller & Bry 2019; Hunnes 2016). Mit der zunehmenden Anzahl an „Nudgingvarianten“, ist es nur sinnvoll eine Möglichkeit zu finden diese zu klassifizieren. Soman (2013) bietet eine solche Möglichkeit.
“Below we present two ways of organizing the different kinds of nudges illustrated in those examples into a comprehensive taxonomy or framework. Our goal in both the matrix and tree diagram that we present is to enhance practitioners’ comprehension of the myriad of nudging techniques available to them and to facilitate the selection of nudges given their intended behavioural outcomes” (Soman & House & Lyons 2013)
Nudges lassen sich in einem ersten Schritt in zwei Motive teilen. Sie werden entweder entworfen, um die Selbstkontrolle von Individuen zu verbessern, oder neue Normen einzuführen (Das bedeutet, dass die angemessene Verhaltensweise den Personen nicht bekannt ist). Nudges die der Verbesserung der Selbstkontrolle dienen, sind dabei auf Motivation zurückzuführen, dass Menschen versuchen ihre eigenen Verhaltensstandards zu erreichen.
Innerhalb dieser Kategorie finden sich deshalb häufig Nudges für die sich die Personen aktiv selbst entscheiden (self-imposed Nudges). External-imposed Nudges hingegen formen Verhalten passiv durch die Art und Weise wie sie verfügbare Auswahlmöglichkeiten präsentieren (Soman & House & Lyons 2013). Nach Dilip Soman ist diese Art des Nudging sowohl bei ersterem zu finden als auch bei Nudges die neue Normen einführen.
Die Funktionsweise von Nudges ist dabei wiederum auf zwei Strategien zurückzuführen. Mindful Nudges versuchen eine Person dazu zu bewegen das reflexive System zu verwenden, also ungewolltes automatisches Verhalten durch bewusstes gewolltes Verhalten zu ersetzen. Mindless Nudges hingegen verfolgen die Strategie das Verhalten mit der Hilfe von kognitive Biases innerhalb des automatischen Systems zu beeinflussen. Eine letzte kleine Unterscheidung ergibt sich zwischen „Encouraging und Discouraging Nudging“.
Ein Experiment von Alan Gerber und Todd Rogers (2005) beschäftigte sich damit, welche von zwei Strategien effektiver ist, um eine höhere Wahlbeteiligung zu erreichen.
- Der Versuchsgruppe wurde am Telefon erzählt, es wird eine kleine Wahlbeteiligung erwartet
- Der Versuchsgruppe wurde am Telefon erzählt, es wird eine hohe Wahlbeteiligung erwartet
Bei der anschließenden Frage, ob sie Wählen gehen werden, antworteten bei der zweiten Strategie sieben Prozent mehr mit „auf jeden Fall“. In einer aufgearbeiteten Tabelle lässt sich die erfolgreiche Strategie mit der Methodik von Soman einfach klassifizieren (Nach Ly & Mazar & Zhao & Soman 2013).
Nudge | Mindful | Mindless | |||
Encourage | Discourage | Encourage | Discourage | ||
Neue Normen aktivieren | External-imposed | X | |||
Selbstkontrolle Verbessern | External-imposed | ||||
Self-imposed |
Allgemein betrachtet ließen sich mithilfe dieser Methodik Nudges aus Case-Studies dokumentieren. In der Zukunft könnte ein Choice-Architect nun in einer ähnlichen Situation auf eine Datenbank zugreifen, um die passende Nudging-Strategie zu implementieren.
Nudging in der Praxis
Soman entwickelte 2013 zusätzlich zu seinem Modell zur Klassifizierung zusammen mit weiteren Autoren auch einen „Guide to Nudging“. Dieser Guide enthält neben dem zuvor genannten Modell eine Prozess Anleitung für Choice Architects zu einem sinnvollen und effektivem Nudge. Dieser selbst erstellte Guide orientiert sich grundlegend an dem Modell Somans, verändert aber einige Parameter leicht.
Schritt 1: Optimalen Entscheidungsweg skizzieren
Schritt eins ist es die vorliegende Situation zu analysieren. Dabei geht es darum den Entscheidungsprozess von Personen nachzuvollziehen und zu gliedern. Dabei ist es hilfreich eine erwünschte Decision-map zu zeichnen. Das bedeutet, die einzelnen Schritte der Person aufzuschlüsseln, die notwendig wären um die erwünschte Aktion (des Choice-Architects) auszuführen.
Schritt 2: Heurisiken und kognitive Biases erkennen, die eine Person vom optimalen Entscheidungsweg abbringen.
Im zweiten Schritt wird, der zuvor skizzierte, optimale Entscheidungsweg Schritt für Schritt betrachtet und auf potenzielle „Stolperfallen“ für das automatische System untersucht. Zudem wird eine Annahme eingetragen, wie stark dieser Bias oder diese Heuristik das Entscheidungsverhalten beeinflusst.
Schritt 3: Lösungen für die „Stolperfallen“ finden
Im anschließenden dritten Schritt wird nun versucht die zuvor identifizierten potenziellen Stolperfallen durch Teil-Nudges zu entfernen. Dabei wird abfallend nach der Stärke der Biases und Heuristiken gearbeitet.
Schritt 4: Teil-Nudges zusammenführen und testen
In diesem Schritt werden die einzelnen Teil-Maßnahmen zusammengeführt und in eine operationale Form gebracht, bevor die Effektivität getestet werden muss.
„Richard Thaler provides two mantras for testing nudging strategies; a) if [one wants to] encourage some activity, make it easy and b) [one can’t do] evidence-based policy without evidence. To these two mantras, we offer a third mantra – document the results and share them widely. This will allow for the creation of a database of what works and under what conditions.“ (Ly & Mazar & Zhao & Soman 2013)
Fazit
Dieser Essay hatte zum Ziel das Prinzip des Nudging generell zu erklären, das Menschenbild dahinter darzustellen und das kognitive Prinzip, auf dem das ganze beruht. Generell ist Nudging noch eine recht neue, aber vielversprechende Methodik, was die vielen Case-Studies unter Beweis stellen. Zudem scheint sich die Theorie eben durch diese ständig zu beweisen, wodurch mittlerweile auch einiges an empirischer Evidenz hinzugekommen ist.
Mit bedauern muss aber festgestellt werden, dass Nudging momentan noch die Domäne des Marktes darstellt und in der Politik nur eine Nischenerscheinung darstellt. So gibt es zwar mittlerweile einige Nudging Task-Forces in Ministerien auf der ganzen Welt, dennoch spielen sie noch keine große Rolle im tagesaktuellen Diskurs. Dabei stellt Nudging für die moderne (globale) Governance ein riesiges Potential bereit und wird hoffentlich in den nächsten Jahren noch deutlich an Bedeutung gewinnen. Eine auf politische Entscheidungsträger zugeschnittene Weiterentwicklung bildet Mindspace, ein Thema für ein weiteren Essay.
Quellen:
Kahneman, D. (2011). Thinking, fast and slow. Farrar, Straus and Giroux.
Shleifer, Andrei. (2012). Psychologists at the gate: review of Daniel Kahneman’s Thinking, Fast and Slow. Journal of Economic Literature 50(4): 1080-1091.
Thaler, Richard H., and Cass R. Sunstein. (2021). Nudge: the final edition. Penguin.
Schwarz, Norbert (1991). Ease of Retrieval as Information: Another Look at the Availability Heuristic. Journal of Personality and Social Psychology 61(2): 195-202.
Lyons, Elizabeth and Julian House (2012). Towards a Taxonomy of Nudging Strategies. Research Report, Rotman School of Management: University of Toronto.
Ly, Kim; Nina Mazar; Min Zhao and Dilip Soman. (2013). A Practitioner’s Guide to Nudging. Research Report, Rotman School of Management: University of Toronto.