Essay Journalismus

Vom Denken in zwei Systemen: Dual-Process Theory

(Die Grundlage dieses Essays bildet der I. Teil des Buches ‘Schnelles Denken, Langsames Denken’ von Daniel Kahneman) 

Unser Denken lässt sich auf zwei (Denk-)Systeme aufteilen. Eines ist für Reaktionen auf unsere Umwelt verantwortlich – System 1 – während unser zweites System für rationale, komplexe Gedankengänge und Entscheidungen zuständig ist. Daniel Kahneman spricht in seinem Buch von zwei Protagonisten, wobei er dafür argumentiert, dass System 1 die wahre Hauptperson ist – obwohl wir vielleicht meinen rational zu handeln. Sehen wir uns, um dies zu verstehen, zunächst die Ursprünge unseres Denkens genauer an.  

Inhaltsübersicht

  1. Über die zwei Protagonisten in unserem Leben
  2. Über vermeintlich rationale Wahlentscheidungen  
  3. Über die Assoziationsmaschine  
  4. Über die kognitive Leichtigkeit und die Evolution   
  5. Quellen

Über die zwei Protagonisten in unserem Leben

Wie bereits der Einleitung zu entnehmen ist, lassen sich unsere Gedanken auf ein Wechselspiel zwischen zwei Systemen zurückführen – so jedenfalls der aktuelle Wissenschaftsstand. Das Ganze nennt sich deshalb auch ‘Dual-Process Theory’ (Duale-Verarbeitung Theorie). System 1 arbeitet automatisch, schnell und ohne willentliche Steuerung (unterbewusst). Dem gegenüber steht unser System 2, dass für bewusste, willentliche und anstrengende mentale Aktivitäten zuständig ist.  

Eine kurze Anmerkung vorneweg: die Aufteilung legt eine klare Trennung nahe, aber so ist es natürlich nicht. Vielmehr besteht eine wechselseitige Beziehung zwischen den beiden Protagonisten unseres Lebens. Zudem handelt es sich natürlich nicht um zwei “Systeme” im klassischen Sinne. Die Aufteilung ist als Schema aufzufassen, dass in den Sozialwissenschaften verwendet wird, um menschliches Denken anschaulich darzustellen. Sehen wir uns einmal die Funktionsweisen genauer an.  

Unser System 1 ist ständig aktiv, denn es ist dafür verantwortlich unsere Welt wahrzunehmen und intuitiv auf sie zu reagieren. Dieser Prozess ist nicht willentlich herbeigeführt und kann auch nicht gestoppt werden, deshalb auch der Name ‘automatisches System’. Das ist auch wichtig, denn nur so erlangen wir die Fähigkeit auf Emotionen und Umweltveränderungen schnell zu reagieren.  

System 2 (oder willentliches System) fungiert gewissermaßen als eingebauter Kontrolleur. Eine zentrale Aufgabe dieses Systems ist es, zu überprüfen, ob die (schnell) getroffenen Entscheidungen sinnvoll, beziehungsweise rational richtig sind. Die zweite Aufgabe ist es, komplexe, kognitiv anstrengende Aufgaben zu lösen.  

In einer Welt voller Reize, in der häufig ein schnelles Reagieren notwendig ist, ist es schlicht unpraktisch und manchmal gar nicht möglich, die automatische Entscheidungsfindung zu hinterfragen. Zudem bedeuten Eingriffe von unserem willentlichen System mentale Anstrengung, die genauso wie körperliche Anstrengung ihre Grenzen hat.  

Der Psychologe Eckard Hess hat in einem Experiment die menschlichen Pupillen während dem Bearbeiten anspruchsvoller Aufgaben gefilmt. Dabei kam heraus, dass diese mit zunehmender Anstrengung immer größer wurden. Viel spannender aber ist, dass sie plötzlich klein wurden, wenn wir unsere kognitive Belastungsgrenze erreichten.  

In diesem Zustand kognitiver Anstrengung verlieren wir aber zunehmend die Fähigkeit unsere Umwelt wahrzunehmen, wie weitere Experimente gezeigt haben. Das Ganze zeigt, dass unser zweites System zwar sehr leistungsfähig ist, aber wie Muskeln auch eine Belastungsgrenze hat.  

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unser Gehirn viele ‘bekannte’ Aufgaben unserer Assoziationsmaschine – System 1 – überlässt. System 2 ist nur dafür zuständig fatale Fehler zu vermeiden und komplexe Probleme zu lösen.  

“Vereinfacht können wir sagen, dass in unserem Kopf ein bemerkenswert leistungsfähiger Computer sitzt, der nach herkömmlichen Hardware-Standards nicht schnell arbeitet, aber in der Lage ist, die Struktur unserer Welt mit unterschiedlichen Arten assoziativer Verknüpfungen in einem riesigen Netzwerk verschiedener Typen von Vorstellungen zu repräsentieren. Die Aktivierungsausbreitung in der Assoziationsmaschine geschieht automatisch, aber wir (System 2) besitzen in gewissem Umfang die Fähigkeit, die Gedächnissuche zu steuern und sie überdies so zu programmieren, dass die Wahrnehmung eines Ereignisses in der Umwelt die Aufmerksamkeit darauf lenken kann” (Kahneman, 2019) 

Über vermeintlich rationale Wahlentscheidungen  

Wovon wird unsere Wahlentscheidung beeinflusst? Nachdem wir im Durchschnitt nur alle zwei Jahre wählen, alle Informationen über die Kandidaten in den Medien die Runde machen und der Wahlprozess selbst eine aktive Entscheidung ist – würden man davon ausgehen, dass die Wahlentscheidung rational und bewusst getroffen wird. Oder zumindest von einem großen Teil der Wählerschaft.  

Diese gängige Auffassung beruht auf drei Perspektiven:  

  1. Rationale Perspektive  
  1. Ideologische Perspektive 
  1. Subjektive Perspektive des Wählers  

Zum einen gehen wir eben davon aus, dass Wählen von uns eine bewusste Auswahl ist (rationale Perspektive). Zudem erwarten wir (jedenfalls ist das bei mir so), dass wir die Wahl anhand von Themen und Positionen treffen, die uns wichtig sind (subjektive Perspektive). Letztendlich spielt sicherlich die ideologische Ausrichtung eine Rolle, die zu Parteitreue führt.  

Die Studien von Alexander Todorov, einem bulgarischen Psychologieprofessor erzählen eine andere Geschichte. Zusammen mit einigen Kollegen stellte er folgende Hypothese auf:  

“Kompetenz stellt sich als eine der wichtigsten Charaktereigenschaft heraus, nach welcher Politiker bewertet werden. Wenn Wähler auf diesem Weg Politiker bewerten, dann könnte das Aussehen des Gesichtes ausreichen, um ihre Wahlentscheidung zu beeinflussen.” (Todorov, 2005 – übersetzt) 

Um ihre Vermutung zu bestätigen, führten sie Fallstudien bei mehreren US-Amerikanischen Senats- und Kongresswahlen durch. Den unwissenden Teilnehmern wurden schwarz-weiße Fotos der jeweiligen Wahlsiegern und Zweitplatzierten gezeigt. Im Anschluss wurden die Probanden gefragt, welche Person sie als kompetenter einschätzen.  

Das Ergebnis ist durchaus überraschend. Bei den Senatswahlen ergab sich eine Übereinstimmung zum tatsächlichen Wahlergebnis von 70%, und bei den Kongresswahlen von 67%. Zudem konnte ein linearer Zusammenhang zwischen der unterschiedlichen Kompetenzeinschätzung (zwischen den zwei Kandidaten) und dem Stimmenunterschied festgestellt werden.  

Auch eine Verkürzung der Betrachtungszeit (der Fotos) auf eine Sekunde veränderte nichts an den Ergebnissen. Das Ergebnis ist eine vierte bedeutsame Perspektive – eine psychologische.  

“Aber eine psychologische Perspektive ergibt, dass schnelle, automatische Einschätzungen von Gesichtern von politischen Kandidaten unsere Verarbeitung von nachfolgenden Informationen über diese Kandidaten beeinflusst!” (Todorov, 2005 – übersetzt) 

Allgemein deutet dieses Beispiel darauf hin, dass die intuitive Einschätzung unserer Umwelt noch mehr Auswirkung auf unser Verhalten hat, als wir vielleicht annehmen – nämlich auch auf vermeintlich rationale Entscheidungen und Handlungen. Nachdem wir nun geklärt haben, dass System 1 der wahre Protagonist unseres Lebens ist, lohnt es sich genauer hinzusehen.  

Über die Assoziationsmaschine  

System 1 hat die Funktion ein Modell unserer persönlichen Welt aufrechtzuerhalten (was ‘normal’ ist). Solange uns nichts überrascht, unbekannt ist, oder klar unstimmig ist, ist es am Drücker. Dabei denken wir nicht im klassischen Sinne (das macht nur System 2), vielmehr kreieren wir anhand vom Kontext, kürzlichen Erfahrungen eine assoziativ kohärente Geschichte unserer Sinneseindrücke. Dies passiert dabei unabhängig von dem Umfang der verfügbaren Informationen, wie das Wahlexperiment zeigt.  

Diese kohärente Geschichte wird dabei immer erschaffen, unabhängig vom Umfang der Informationen. Beschrieben wird dieses Phänomen mit folgendem Satz: ‘What you see is all there is’ (Nur was man gerade weiß, zählt), egal wie absurd der Kontext. Robert Gilbert hat gezeigt: Nichtglauben ist eine Operation von System 2. 

Konkret auf menschliche Interaktionen gibt es sogar einen Namen dafür: Der Halo Effekt. Dieser beschreibt die Tendenz, dass wir alles, auch Dinge die gar nicht beobachtet wurden, mit einem Menschen assoziieren. Dabei werden die Wissenslücken mit Vermutungen gefüllt, die der “subjektiven emotionalen Reaktion auf sie [eine Person] entspricht”. (Kahneman, 2019) 

Experimente von Solomon Ash bestätigt dies. Den Versuchsteilnehmern wurden zwei verschiedene (oder gleiche) Personen anhand ihrer Charaktereigenschaften (in folgender Reihenfolge) vorgestellt: 

  • Alan: intelligent – fleißig – impulsiv – kritisch – eigensinnig – neidisch  
  • Ben: neidisch – eigensinnig – kritisch – impulsiv – fleißig – intelligent 

Anschließend wurden sie nach ihrer Meinung zu Alan und Ben gefragt. Im Ergebnis hatten die Teilnehmer eine positivere Meinung von Alan, der erste Eindruck scheint also tatsächlich entscheidend zu sein! Sehen wir uns noch eine andere Eigenschaft von unserem Protagonisten an.  

Der so genannte Priming-Effekt (‘Bahnungseffekt’) wurde in den 1980er Jahren entdeckt und beweist die Bedeutung von kürzlichen Erfahrungen. In mehreren Experimenten wurde gezeigt, dass die Darbietung eines Wortes dazu führt, dass uns ähnliche Worte eher ins Gedächtnis kommen – wir werden “Geprimt”.  

“Wenn Sie vor Kurzem das Wort eat (“essen”) gesehen oder gehört haben, werden Sie vorübergehend das Wortfragment so_p eher als soup (“Suppe”) denn als soap (“Seife”) vervollständigen” (Kahneman, 2019) 

Das ist an sich erstmal nichts Weltbewegendes, aber dieses Konzept beschränkt sich nicht auf Wörter. Vielmehr sind unsere Handlungen und Emotionen ständig durch vorherige Ereignisse beeinflusst. Das geht so weit, dass wir langsamer gehen, wenn wir Wörter lesen – die wir mit älteren Menschen assoziieren (und andersrum). Es handelt sich dabei um eine triviale Manipulation des psychischen oder physischen Kontextes. Umso unsicherer unsere Präferenzen in einer Situation sind, umso effektiver ist das ‘Priming’.  

Dieser Effekt ist aber nicht nur ‘nice to know’, er hat Auswirkungen auf unser alltägliches Leben. Ein Volksentscheid für höhere Bildungsausgaben ist erfolgreicher, wenn die Wahl in einer Schule stattfindet. Der Prime ‘Geld’ stärkt Individualismus, Egoismus und die Selbstständigkeit. Das Portrait eines ‘beobachtenden’ Menschen bringt uns dazu mehr zu spenden. All dies sind nachgewiesene Beispiele für den Priming Effekt. Wir haben jetzt gelernt, dass wir uns vom Kontext und von kürzlichen Erfahrungen/Eindrücken aus unserer Umwelt beeinflussen lassen. Die Frage ist: Wieso funktionieren wir so?  

Über die kognitive Leichtigkeit und die Evolution   

Jeder neu gewonnene Input aus der Umgebung (und unserem Kopf) beschäftigt unser Gehirn in einem gewissen Maße, dabei haben wir eine Skala zwischen ‘cognitive ease’ (Kognitive Leichtigkeit) und ‘cognitive strain’ (Kognitiver Beanspruchung).  

Handelt es sich um wiederholte Erfahrungen, klare Darstellungen, geprimte Vorstellungen oder haben wir schlichtweg gute Laune – fällt es uns einfacher diese Eindrücke zu verarbeiten. Bei etwas neuem, einer potenziellen Bedrohung oder einem hohen Leistungsdruck versprühen wir schnell eine geistige Anstrengung. Bei diesen ist unser System 2 aktiv und arbeitet an Lösungen. 

Gehen wir etwas weiter zurück in der Zeit erkennen wir den Sinn dieser Arbeitsteilung. In der Zeit der Jäger&Sammler konnte jede unbekannte Situation gefährlich sein – oder schlichtweg den Tod bedeuten, wenn nicht adäquat gehandelt wird. War eine Situation hingegen bekannt – und als gefahrenlos eingestuft – reichte es vollkommen aus assoziativ zu denken und zu handeln.  

Meiner Vermutung nach, hat dies auch etwas mit dem Sparen von Energie zu tun. Kognitive Anstrengung bedeutet, ähnlich wie körperliche Anstrengung, ein erhöhter Kalorienverbrauch. In einer Zeit in der Nahrung ein knappes Gut war, macht es durchaus Sinn nur notwendigen Situationen mit kognitiver Beanspruchung zu begegnen. Deshalb hat unser 2. System zwar die Möglichkeit Entscheidungen des 1. Systems zu “überschreiben”, tut dies aber nur bei offensichtlichen Fehlern oder unlogischen Situationen – deshalb auch der Name: der faule Kontrolleur.  

Somit zeigt sich einerseits, dass viele alltägliche Entscheidungen von unserem automatischen System getroffen werden – häufig fühlt es sich einfach “richtig” an. Andererseits greift unser 2. System auf Erkenntnisse des 1. zurück, weshalb wir uns auch bei vermeidlich rationalen Entscheidungen nicht vollständig rational verhalten. Es scheint als wäre kognitive Leistung ein Sport, und wir haben nur begrenzte Kapazitäten. Im nächsten Teil wird es dann um die kognitiven Verzerrungen und Heuristiken gehen, die aus der Arbeitsweise unseres Gehirns entspringen.  

Quellen

Primärquellen: 

  1. Kahneman, Daniel. “Zwei Systeme.” Schnelles Denken, Langsames Denken, 20th ed., Penguin Verlag, 2019, pp. 31–127.  
  2. Todorov, Alexander, et al. “Inferences of Competence from Faces Predict Election Outcomes.” Science, vol. 308, no. 5728, 2005, pp. 1623–1626., https://doi.org/10.1126/science.1110589

Sekundärquelle: 

  1. ScienceDirect. “Dual Process Theory.” Dual Process Theory – an Overview | ScienceDirect Topics, 2023, https://www.sciencedirect.com/topics/psychology/dual-process-theory

Bildquelle:

  1. Selbst erstellt mit der Hilfe von www.Canva.com.
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