(Grundlage dieses Essays bilden die Kapitel “The State”, “Democracy”, “Authoritarian Rule” des Buches “Comparative Government and Politics” (2013) von Rod Hague und Martin Harrop)
Der moderne Staat ist eine west-europäisches Phänomen, welches sich seit dem 19. Jahrhundert nach und nach auf der ganzen Welt ethabliert hat. Heutzutage findet man kaum noch Ausnahmen, dies bedeutet aber nicht, dass jeder Staat die gleichen Institutionen und Strukturen aufweist. Ganz im Gegenteil: Jeder Staat ist verschieden, abhängig unter anderem von Geschichte, Kultur, Zeitpunkt und den Umständen der Entstehung. Dieser Essay gibt einerseits einen Überblick über die Entwicklung der Staaten außerhalb der west-europäischen Sphäre und betont andererseits unter unterschiedlichen Gesichtspunkten, wie Divers die Staatenwelt doch ist!
Inhaltsübersicht
- Über die Entstehung der Staatenwelt
- Über die autoritäre Tradition
- Über die Formen autoritärer Herrschaft
- Über die liberal demokratische Tradition
- Über die ‘Hybridregime’
- Über Wohlstand und Demokratie
- Quellen
Über die Entstehung der Staatenwelt
Beginnen wir mit einem kurzen Rückblick. Im letzten Essay hatten wir uns mit der Entstehung und Entwicklung des Staates seit dem 14. Jahrhundert beschäftigt. Dabei wurden nur die west-europäischen Staaten betrachtet, denn diese bilden nun einmal die Geburtsstätte des Staates.
Ab dem 18. Jahrhundert begannen sich Staaten nach westlichem Vorbild in die gesamte Welt herauszubilden, nachdem erste anti-kolonialistische Bewegungen erfolgreich waren. Ein erster Betrachtungspunkt der Diversität von Staaten bietet deshalb das Verhältnis zur Kolonisation – es kann aufgeteilt werden in Ex-Kolonien, Ex-Kolonisierern und Staaten, die sich unabhängig entwickelt haben. Sehen wir uns hier insbesondere erstere Kategorie genauer an, und ihr Verhältnis zum liberal demokratischen Staat “des Westens”.
Innerhalb der Ex-Kolonien kann dabei nochmal zwischen den frühen Siedler-Kolonien (‘early-settler colonies’) und Nicht-Siedler-Kolonien (‘Non-settler colonies’) unterschieden werden. Unter die erste Kategorie fallen beispielsweise die USA, Australien und Kanada. Diese Kolonien waren von einer Vertreibung der Indigenen Bevölkerung und der Niederlassung von West-Europäern geprägt, wodurch sich dort de facto Staaten nach westlichem Vorbild bildeten. Dennoch unterscheiden sie sich von den West-Europäischen Staaten, vor allem im Bezug auf die Stellung des Staates und die Betonung der liberalen Tradition.
Diese eigenständigen Staaten begannen sich bereits im 18. Jahrhundert herauszubilden – angefangen mit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776). Hilfreich war dabei sicherlich, dass die Bevölkerung (Europäer) zuvor nicht unterdrückt wurden und sich bereits relativ autonom organisiert hatten.
Nicht so leicht hatten es hingegen die Nicht-Siedler-Kolonien, denn dort wurden sowohl die Menschen als auch ihre heimischen Ressourcen aktiv ausgebeutet. Zudem bestanden sie in vielen Fällen vor der Kolonialisierung aus kleineren, unabhängigen politischen Einheiten – ohne vorherige Erfahrung als eine Einheit. Der Prozess der Dekolonialisation begann dabei im 19. Jahrhundert und umfasste vier Wellen. Die in diesem Prozess entstandenden Staaten hingen stark davon ab, wie und in welcher Welle sie sich bildeten (Hague, Harrop 2013).
Die ersten Welle der unabhängigen Staatenbildung (1810 – 1838) umfasste viele lateinamerikanische Staaten. Zwischen 1810 und 1838 setzten sich die republikanischen Bewegungen gegen die monarchische Herrschaft aus Spanien und Portugal durch. In dieser Welle der Dekolonisation wurden ungefähr 15 neue unabhängige Staaten geschaffen – Beispiele sind Brasilien und Argentinien. Die entstehenden Staaten waren dabei republikanisch, aber nicht liberal-demokratisch geprägt. In der Folge entstanden deshalb eher autoritär geprägte Staaten, gewachsen auf der Ablehnung der europäischen Traditionen.
In der Folge dauerte es fast 100 Jahre, bis sich erneut mehrere unabhängige Staaten bildeten. Erst mit dem Ende des ersten Weltkrieges (1914-1918) gab es eine zweite Welle, nachdem als Konsequenz sowohl das Osmanische und Russische Reich als auch Österreich-Ungarn zerfielen. Allerdings vergingen fast weitere 100 Jahre, bis sich alle der 12 unabhängigen Staaten entwickeln konnten – ausgenommen die Türkei. Sie wurden durch Faschischmus und Kommunismus zum Spielball der internationalen Politik. Erst mit ihrem Eintritt in die Europäische Union im Jahre 2004 hatten sich die eigenständigen Staaten in Ost-Europa entgültig herausgebildet.
Das Ende der europäischen Supermächte (Großbritannien, Frankreich, Belgien u. Portugal), in Folge des 2. Weltkrieges, markierte eine weitere Welle der Staatenbildung. Davon betroffen waren die Ex-Kolonien in Afrika, Asien und der Karribik. Der Prozess begann mit der Unabhängigkeit von Indien (1944) und Pakistan (1946) noch während des 2. Weltkrieges, dennoch dauerte es teilweise bis 1984, bevor sich die letzten der über 90 Ex-Kolonien endlich unabhängige Staaten nennen konnten. Bedenkt man hierbei, dass die meisten der neuen Staaten von Europäern “gezeichnete” Grenzen hatten, also keine natürlichen Einheiten bildeten, ist es nicht verwunderlich, dass dort nur schwache Staaten und Krisenherde entstanden.
Die letzte große Welle der Dekolonialisierung geht auf den Zerfall der UdSSR – und somit des stalisnistisch geprägten Kommunismus zurück (1991). In dieser Phase gewannen die baltischen Staaten und Blockstaaten in Ost-Europa endlich ihre Unabhängigkeit. Zudem zerfiel die Soviet-Union selbst und hinterließ neben dem heutigen Russland auch Staaten wie die Ukraine und Kazakhstan. Trotz der relativ gleichzeitigen Unabhängigkeit, entwickelten sich unterschiedlich starke Staaten:
Unter dem Schutzschirm der Europäischen Union, die den baltischen Staaten politische und ökonomische Stabilität gewährleistete, konnten sich dort relativ starke liberale Demokratien herausbilden. Die eher kleinen asiatischen Staaten entwickelten sich eher zu schwachen, instabilen Staaten mit autoritärer Herrschaft. Kein Wunder, denn sie waren geprägt von ethnischer Spaltung und pre-industrialisierten Wirtschaftssystemen. Auch in den Nachfolgerstaaten der Sovietunion waren diese Probleme spürbar, hinzu kam die Unerfahrenheit als politische Einheit.
Unabhängig von der Phase der Dekolonisation unter den Nicht-Siedler Kolonien entstanden nur selten starke, unabhängige Staaten. Dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Zum Beispiel Unerfahrenheit als politische Einheit, hohe Machtkonzentration, aber auch Ablehnung der westlichen Lebensweise. Stattdessen entwickelten sich häufig autoritäre Systeme verschiedenster Prägung. Was bedeutet autoritäre Herrschaft (‘Authoritarian Rule’)?
Über die autoritäre Tradition
Nach Hague und Harrop (2013) lassen sich einige vereinende Eigenschaften festhalten. Autoritäre Herrschaftssysteme besitzen häufig nur einen schwachen (oder keinen) verfassungsrechlichen Rahmen. Daraus resultieren wiederum schwache und interpretierbare Gesetze, die ausgenutzt werden, um unliebsame Personen “legal” zu beseitigen. Durch den fehlenden Schutz vor der Willkürlichkeit der Regierung, aufgrund der Ohnmächtigkeit anderer Institutionen, existieren auch keine (verbindlichen) Freiheits, Besitz- und Grundrechte.
Dennoch unterliegt autoritäre Herrschaft unausgesprochenen Limitationen, denn im Gegensatz zu den totalitären Regimen der Vergangenheit oder aus George Orwells 1984, geht es nicht um ‘totale Kontrolle’. Vielmehr reicht es in der Regel aus, sich nicht aktiv gegen das Regim zu wenden um ein unabhängiges Leben führen zu können. Autoritäre Regime setzen also nicht zwingend auf Zustimmung, sondern vielmehr auf die Vermeidung von Ablehnung – insbesondere von anderen Machthaltern innerhalb ihres Staates.
Diese können regionale Führungspersönlichkeiten sein, kirchliche Vertreter, hohe Parteibeamte oder einflussreiche Großunternehmer. Die autoritäre Führungsriege ist von diesen ‘Gönnern‘ (‘Patrons‘) abhängig. Die Gönner selbst vereinen große Bevölkerungsgruppen unter sich, oder können sie entscheidend beeinflussen. Damit sich diese nicht gegen die autoritäre Führung stellen, werden sie mit Ressourcen (z.B. ökonomischen Gelegenheiten) versorgt, die diese wiederum an ihre Unterstützer verteilen.
Eine weitere Schlüsselpositon ist das Militär. Es ist kein Zufall, dass die meisten autoritären Regierungen auch frei über das Heer verfügen oder ihre eigenen para-militärischen Truppen unterhalten. Zuletzt hilft die direkte Beeinflussung der medialen Berichterstattung dabei, ein positives Bild der Führungsriege zu verkaufen – oder auch Feindbilder zu kreieren. Letztendlich geht es darum den materiellen oder immateriellen eigenen Wohlstand zu sichern und gleichzeitig die verfügbaren Ressourcen möglichst an die richtigen Leute zu verteilen.
Unter den autoritären Regimen gibt es aber wiederum verschiedene Typen. Die heutzutage politisch relevantesten Formen der autoritären Herrschaft bilden Parteiregime (Bsp. China), Sultanistische Regime (Bsp. viele Golf-Staaten) und autoritäre Präsidialherrschaften (Bsp. Usbekistan). Weitere Formen sind beispielsweise Militärregime, persönlicher Despotismus und Religös-Autoritäre Regime. Sehen wir uns die wichtigsten einmal kurz an.
Über die Formen autoritärer Herrschaft
In Usbekistan regierte Islam Karimov als ‘Präsident’ bis zu seinem Tode 2016. Während des Kalten Krieges war er bereits Führer der kommunistischen Partei, sicherte seine Herrschaft aber durch einen Coup gegen Diese. In einer Präsidentialherrschaft ist die Institution des Präsidenten die Machtbasis – also unabhängig davon, wer diese Positon bekleidet. Diese Form der autoritären Herrschaft scheint in größeren, komplexeren Gesellschaften Anwendung zu finden.
Karimov ethablierte sich nach seinem Coup als ein unabhängiges Staatsoberhaupt, im Dienste des Staates. Der Instutition des Präsidenten gab er allerdings umfassende Macht. Durch seine Fähigkeit Minister und regionale Führer zu enlassen, verhinderte er aktiv eine starke Opposition. Außerdem kontrollierte er die Bevölkerung über die Medien, traditionelle Institutionen (soziale Kontrolle) und setzte den Geheimdienst zur Überwachung ein. Melvin (2000) beschreibt es als: ‘Der Präsident trifft alle großen und viele der kleineren Entscheidungen’.
Eine weitere politisch relevante Form der autoritären Herrschaft bilden Monarchien. Nachdem dabei aber heutzutage die reichen, arabischen Öl-Staaten des persischen Golfes gemeint sind, ist der Begriff Sultanistische Regime (Max Weber) wohl besser geeignet. Durch die traditionelle Autorität (Haben wir schon immer so gemacht…) sind diese Staaten relativ stabil. Denn zum einen ist die Herrschaft als Ganzes akzeptiert und zum anderen existiert eine klare Machtnachfolge, die die Fortsetzung der Herrschaft sicherstellt. Selbst der Arabische Frühling richtete sich in diesen Staaten nicht direkt gegen die autoritäre Herrschaft.
Der Begriff Sultanistisches Regime passt aus drei Gründen besser. Erstens entspringen die Titel (Emir, Sultan) islamischer- oder Stammestradition. Zweitens regieren alle Prinzen und nicht nur der König und drittens wählt der König selbst den (in seinen Augen) kompetentesten Nachfolger und nicht den Nächsten. Zudem muss diese Auswahl nach seinem Tod noch von einem Clan-Treffen bestätigt (oder verändert) werden. Aufgrund ihrer Bedeutung für den Energiemarkt (Öl, Gas) und die Herrkunft vieler Terroristen sind die Monarchien dabei international politisch relevant.
Ein-Partei-Regime erschienen im 20ten Jahhrundert. Sie unterscheiden sich in dem Sinne von anderen autoritären Herrschaftsformen, dass sie ein idealistisches Ziel verfolgen. Im Namen diese Zieles (Bsp. ökonomische Modernisierung, Soziale Transformation) monopolisieren sie die Staatsgewalt – ‘zum Wohle der Gesellschaft’. Auch deshalb unterliegt diese Form immer einer gewissen Ideologie: Nationalistisch, Faschistisch oder Kommunistisch.
Die kommunistisch, nationalistischen Regime in Cuba, Nord Korea, Laos, Vietnam und China überlebten den Zerfall des Kommunismus, indem sie die wirtschaftliche Kontrolle ab den 70ern stückweise aufweichten. Ironischerweise war es diese (Teil-)Adaption der kapitalistischen Märkte, die ihre politische Macht sicherte. Das wohl wichtigste heutige Beispiel liefert China.
In China finden wir genau diesen Mix aus nationalistischen und kommunistisch orientierten Machtstrukturen. Die Partei selbst ist kommunistisch und dient als Machtbasis, aber innerhalb dieser haben sich Führungsgruppen herausgebildet, die eher nationalistisch geprägt sind. Das ganze System ist dabei eins der Gönnerschaft, denn ein Unternehmer kann nur wirtschaftlich erfolgreich sein, wenn er sich mit den lokalen und nationalen Führungskräften gut stellt. “Gut stellen” bezeichnet dabei die weit verbreitete Korruption unter Parteimitgliedern, lokalen Regierungsbeamten und Armeeoffizieren.
Park (1976) argumentiert, dass Chinas Agenda “den Westen” zu überholen, die treibende Kraft hinter der Entwicklung Chinas ist. Dies würde auch zu dem allgemeinen Bild passen – der Partei als Retter der Nation, die die Bevölkerung vor den Feinden aus dem Ausland schützt. Interessant ist abschließend auch, dass nur kommunistische Parteiregime in der aktuellen Welt anzutreffen sind. In allen anderen Fällen von autoritärer Herrschaft, ist die Partei lediglich ein Treiber der Macht – nicht die Machtbasis selbst.
Dem entgegen steht die demokratische Tradition – ca. 70 Staaten zählten 2019 laut Statista als demokratisch. Der Begriff entstammt dabei dem griechischen und bedeutet ‘Volksherrschaft‘. Aber im Gegensatz zur direkten Demokratie der Antike, wird die moderne Form als repräsentativ, liberal aufgefasst – deshalb auch der Begriff liberale Demokratie.
Über die liberal demokratische Tradition
Die modernen Demokratien sind repräsentativ, weil unsere Staaten schicht zu groß sind. Eine direkte Demokratie bedeutete nämlich historisch, dass jeder Bürger die Möglichkeit hatte im Parlament abzustimmen und persönlich für seine politische Agenda zu kämpfen. Würde dies in einem Staat wie Deutschland oder der USA umgesetzt werden, würde es zu politischem Stillstand kommen. Anstattdessen sollen Personen, Parteien und Interessensgruppen bestimmte Interessen “vorfiltern” und bündeln.
Die modernen Demokratien sind liberal, weil die Regierungen Limitationen unterliegen, die die Freiheitsrechte und Besitzrechte der Bevölkerung sicherstellen. Die Bevölkerung, beziehungsweise die Gesetze sind der wahre Souverän der liberalen Demokratie – die Grundrechte können jederzeit gegen die Regierung eingeklagt werden. Das ganze wird als ‘governance by law’ (etwa: Regierung auf Basis von Gesetzen) bezeichnet.
Unter den Demokratien selbst ist jede wiederum einzigartig, auch hier spielen die Gründungszeit und -Umstände wieder eine entscheidende Rolle. Der Politikwissenschaftler Simon Huntington charakterisiert drei Wellen der Entstehung von demokratischen Staaten. In der erste Welle (1828-1926) entstanden in einem langwirigen Prozess ungefähr 30 Demokratien in Westeuropa und den Siedler-Kolonien. Beispiele hierfür sind dementsprechend Großbritannien, Frankreich oder die USA.
Die zweite Welle begann 1943 und dauerte bis 1962. Die in dieser Periode gegründeten Demokratien entwickelten ein stärker ausgeprägtes Parteisystem, mit einer schwächeren liberalen Tradition. Beispiele hierfür sind West-Deutschland oder Indien. Die dritte Welle begann 1974 und endete nach dem Fall der Sovietunion im Jahre 1991. Im Gegensatz zu den vorherigen Wellen betrifft Diese die Entwicklung von autoritären Regimen zu Demokratien in Süd- und Osteuropa, Latein Amerika und Afrika.
Die Idee der liberalen Demokratie und des autoritären Staates bilden dabei jeweils die Eckpunkte einer Skala. Jeder Staat der modernen Welt scheint sich irgendwo zwischen diesen beiden Punkten zu bewegen. Eine wichtige Klasse zwischen diesen beiden “Extrema” bilden Hybridregime.
Über die ‘Hybridregime’
Während des kalten Krieges lag der Fokus internationalen Gemeinschaft, insbesondere der beiden Supermächte (USA, UdSSR) auf der Mobilisierung der Staaten gegen den anderen “Block“. Im Schatten dieses internationalen Konflikes erstarkten die autoritären Regime, denn sie wurden weitaus Bedingunglos ökonomisch, politisch und militärisch unterstützt. Davon profitierten insbesondere Militärregime und persönliche Despoten, die unter normalen Umständen ihre Macht nicht hätten halten können.
Mit dem Ende des kalten Krieges und dem “Sieg der demokratischen Ideologie über die Kommunistische”, kamen viele autoritäre Regime unter Reformdruck von außerhalb – aus der internationalen Gemeinschaft. Das ganze schuf eine ganz neue Kategorie in der Staatenwelt: denn viele zuvor autokratische Staaten adaptierten demokratische Praktiken. Zunächst wurden angenommen, dass sich diese Staaten zunehmend in Demokratien transformieren würden – eine Fehlkalkulation.
Rückblickend haben sich die autoritären Herrscher zwar dem internationalen Druck der Zeit nach dem kalten Krieg gebeugt, um ihre Herrschaft zu behaupten, haben aber gewissermaßen ein “Decoupling” (Entkopplung) betrieben. Häufig wurden einige Formfatoren der Demokratie angenommen, aber von der Funktion getrennt. So wurden beispielsweise Wahlen gehalten, aber die Oppositon aktiv benachteiligt. Das ganze wird heutzutage als ‘Hybridsystem’ (‘competitive authoritarian regime’) bezeichnet.
Diese Wahlen fielen dann (i.d.R.) klar für den amtierenden Regierungsführer aus, wodurch seine Herrschaft bestätigt und gestärkt wurde. Mittlerweile sind Hybridregime die am häufigsten auftretende Staatsform – neben der Demokratie. Der Präsident (Staatsführer) wird dabei meist als ‘Retter der Nation’ dargestellt, der dam armen, gespaltenen Land (ethnisch, religiös, ökonomisch), dass von außen bedroht wird, wieder zu alter Stärke verhilft (Hague, 2013). In der Praxis zeichnen sich Hybridregime dadurch aus, dass sie zwar Wahlen abhalten und Oppositionsparteien zulassen, aber diese mithilfe von Medien oder anderen Hürden aktiv benachteiligen – Stichwort: manipulierte Wahlen und Medien.
Über Wohlstand und Demokratie
Abschließend wollen wir die Staatenwelt von einer Einkommensperspektive betrachten. Dafür ist der Indikator der Weltbank die führende Klassifizierung. Dieser unterteilt die Staaten mithilfe des Bruttoinlandsproduktes (+ Empfangene/Ausgegange Einkommen) in vier Einkommenskategorien. Dabei wird vom GNI (Grossnationalincome = Bruttonationaleinkommen) pro Kopf ausgegangen:
- High income states = > $13,205 – 81 Staaten – Beispiele: Deutschland, USA
- Upper-middle income states – $4,256 – $13,205 -54 Staaten – Beispiele: China, Russland
- Lower-middle income states = $1,086 – $4,255 – 54 Staaten- Beispiele: Ägypten, Indien
- Low income states = < $1,086 – 28 Staaten – Beispiele: Afghanistan, Uganda
Betrachtet man die ‘High-income states’ genauer und verbindet sie mit dem Freedom House Index, der die Welt in demokratische und autoritäre Staaten einteilt, scheint es eine starke Verbindung zwischen hohem GNI und Demokratie zu geben. Dieser Zusammenhang erscheint durchaus logisch. Um dies nachzuvollziehen müssen wir den Gesellschaftsbegriff als Interessenskonflikt zwischen verschiedenen Machtgruppen begreifen.
Nach Lukes (2005) gibt es dabei drei Machtdimensionen:
- Dimension: Wer setzt sich bei Interessenskonfliken durch?
- Dimension: Wer kontrolliert welche Interssen ausgedrückt werden können?
- Dimension: Wer gestaltet die Interessen?
und obwohl auch in unseren liberalen Demokratien bestimmte Gruppen mehr Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen als Andere, erhalten wir in autoritären Staaten deutlich einfachere und klarere Antworten auf diese verschiedenen Dimensionen von Macht. Demokratien zeichnen sich also generell durch eine gleichere Verteilung der Machtressourcen aus. Sehen wir uns nun an, was Modernisierung bedeutet:
Im Prozess der Modernisierung werden zunehmend mehr Arbeitskräfte für die Industrialisierung der Wirtschaft benötigt. Diese werden mit monetären Anreizen in die Industriezentren (Städte) gelockt. In der Folge wird es für die Machthalter attraktiv die Kinder dieser Fachkräfte zu bilden, denn einerseits steigt die Nachfrage nach neuen Produktionsmethoden (Forschung). Zudem erfordern die Produktionsschritte zunehmend mehr Koordination, wofür mehr Führungskräfte benötigt werden. Außerdem werden die Arbeitsschritte selbst komplexer.
In dieser Entwicklung wird die Gesellschaft als Ganzes zunehmend wohlhabender und obwohl dieser Wohlstand keinesfalls gleich verteilt ist, entwickelt und erweitert sich doch eine ökonomische Gruppe, die sich nicht mehr ausschließlich um ihre physiologischen und Sicherheitsbedürfnissen kümmern muss (Maslows Bedürfnispyramide). Diese Gruppe schafft weitere ökonomische Interessensgruppen, die zwischen denen der Reichen und Armen liegen – die “Mittelschicht“. Mit zunehmender Breite der Mittelschicht gewinnt sie einerseits an Einfluss und vermindert andererseits die extreme Machtkonzentration bei der reichen Minderheit.
“Wenn das wirtschaftliche Entwicklungsniveau steigt, werden in der Regel verschiedene wirtschaftliche Ressourcen weitläufiger verteilt und die Anzahl wirtschaftlicher Interessengruppen nimmt zu. Der zugrunde liegende Faktor hinter der positiven Korrelation zwischen dem Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung und der Demokratie ist daher die Verteilung der Machtressourcen.” (Vanhanen 1997, S. 24, übersetzt)
Dieser starke Zusammenhang wurde bereits mehrmals empirisch bewiesen (Lipset (1959), Boix (2003), Vanhanen (1997)). Kann man also sagen, dass eine Modernisierung einer Gesellschaft zur Demokratie führt? – Diese Frage ist deshalb so relevant, weil die Antwort bestimmte Politikempfehlungen für die Verbreitung der demokratischen “Werte” auf der Welt beinhaltet. Dieser Frage will ich mich in einem weiteren Essay witmen.
Die Staatenwelt ist unfassbar divers – keiner gleicht dem anderen. Dennoch lassen sich Staaten nach verschiedenen Gesichtspunkten in bestimmte Kategorien oder Gruppen einteilen. Die wohl wichtigsten sind das zugrunde liegende politische System und die Einkommensklasse. Denn diese erklären politische Kooperationen, Konfliktlinien und politische Relevanz in der internationalen Gemeinschaft. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Diversität der Staatenwelt kein Zufallsprodukt ist, sondern auf politische, gesellschaftliche Ereignisse und Konstellationen innerhalb und außerhalb des Staates zurückzuführen ist.
Quellen
Primärquellen:
- Hague, Rod, and Martin Harrop. “The State.” Comparative Government and Politics:9th Revised Edition: An Introduction, 9th ed., PALGRAVE MACMILLAN, 2013, pp. 21–40.
- Hague, Rod, and Martin Harrop. “Democracy.” Comparative Government and Politics:9th Revised Edition: An Introduction, 9th ed., PALGRAVE MACMILLAN, 2013, pp. 41–57.
- Hague, Rod, and Martin Harrop. “Authoritarian Rule.” Comparative Government and Politics:9th Revised Edition: An Introduction, 9th ed., PALGRAVE MACMILLAN, 2013, pp. 58–74.
Sekundärquellen:
- Henrich, Philipp. “Länder Mit Einer Demokratischen Regierungsform 2019.” Statista, 5 May 2023, de.statista.com/statistik/daten/studie/1102559/umfrage/anzahl-der-laender-mit-einer-demokratischen-regierungsform/.
- OECD. “National Income – Gross National Income – OECD Data.” theOECD, 2023, data.oecd.org/natincome/gross-national-income.htm.
- The Worldbank. “World Bank Country and Lending Groups.” World Bank Country and Lending Groups – World Bank Data Help Desk, 2022, datahelpdesk.worldbank.org/knowledgebase/articles/906519.
Bildquelle:
- Selbst erstellt mit der Hilfe von www.Canva.com.

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