Bild von https://liveit.ch/trettmann-am-gurtenfestival-2019-2019/
Aus der Sicht des eigenen Innern sind wir nicht auf unsere Gegenwart beschränkt, sondern weit in die Vergangenheit ausgebreitet. Das eigene Innere kennt keine Zeit, kennt sie nicht und anerkennt sie nicht. Es ist immer noch dort, an jenem entfernten Ort in der Zeit, es ist dort nie weggegangen, sondern lebt ausgebreitet in die Vergangenheit hinein, oder aus ihr heraus. Sie ist Gegenwart, diese Vergangenheit, nicht nur in der Form des Erinnerns. Man darf sich demnach nicht täuschen in der lächerlichen Oberflächlichkeit der Gegenwart“.
-Pascal Mercier (Nachtzug nach Lissabon)
Trettmann, geboren 1973 in Karl-Marx Stadt (heutiges Chemnitz) bringt mit seinem Stück „Grauer Beton“ seine Vergangenheit in die Gegenwart. Er singt über seine Jugend in einem Plattenbau der DDR, über die Perspektivlosigkeit vor und während der Wendezeit, und über eine neue westliche Welt, die unterschiedlicher zu seiner Lebensrealität kaum hätte sein können.
Zunächst könnte man das Lied als Rebellion gegen die Trostlosigkeit der grauen Betonwüste lesen, doch schnell wird man erkennen, gerade der Plattenbau ist der Ort der Vergangenheit, der sich in die Gegenwart des Künstlers erstreckt. So bleibt das Stück in allen Aussagen offen und zerrissen. Der graue und trostlose Plattenbau, der aber auch immer Heimat und Zusammentreffens Ort der Freunde war, die neue westliche Welt, die zum einen Idealbilder und Idole in Kultur und Sport hervorbringt, zum anderen aber auch mit leeren Versprechen der bunten Geldscheine eine unwirkliche und unschöne Zukunft herbeiführt. Auf der einen Seite die Freundesgruppe in der DDR, auf der anderen Seite junge Menschen, die versuchen schnelles Geld zu machen und alle anderen mit in den Abgrund ziehen. So setzt Trettmann künstlerisch das um, was Mercier versucht zu erklären. Die Verganenheit ist nicht vorbei. Wir sind sie. Sie erstreckt sich in uns bis hin zur Gegenwart. Und sie ist nie eine klare Linie, ein gedruckter Lebenslauf. In der Vergangenheit eines jeden Menschen türmen sich Risse und Brüche auf. Sie ist widersprüchlich und steckt voller Ambivalenzen.
Grauer Beton, rauer Jagon
Freiheit gewonnen, wieder zerronnen (1) Auf und davon, nicht noch eine Saison (2) Auf und davon, nicht noch eine Saison
Grauer Beton, rauer Jagon Bilder verschwommen, kehr‘ nicht mehr um Auf und davon, nicht noch eine Saison Auf und davon, nicht noch eine Saison |
(1) Durch den Fall der Mauer während der Wendezeit ergibt sich eine neue (primär geographische Freiheit), die als Illusion erscheint, weil neue wirtschaftliche Zwänge in einer ökonomischen Unfreiheit enden.
(2) Äußerung des Wunsches, aufzubrechen und im Westen ein Leben aufzubauen
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Alte Schule, steile Kurve, immer Gegenwind
Folg‘ dem Wendekind dorthin, wo man noch Hände ringt Unbeschwerte Jahre früh zu Ende sind (3) Dir niemand sagt, dass es ‘n gutes Ende nimmt In meinem Hauseingang kaum Gutes los (4) Freunde werden stumpf, werden skrupellos (5) Lieber schnell leben, ruhelos Statt Abstellgleis, kein Zielbahnhof
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(3) Anspielung auf die vermutlich harte Kindheit in der Plattenbausiedlung
(4) Betonung der Perspektivlosigkeit und Kriminalität
(5) Vermutlich Anspielung auf den Vertrauensverlust unter Freunden, da in jeder Bevölkerungsschicht Spitzel der Staatssicherheit vertreten waren. So konnte man nicht mehr frei sprechen und stand aber gleichzeitig in Verdacht, selbst Spitzel zu sein. |
Seelenfänger schleichen um den Block und
Machen Geschäft mit der Hoffnung Fast hinter jeder Tür lauert ‘n Abgrund (6) Nur damit du weißt, wo ich herkomm‘ (7)
Seelenfänger schleichen um den Block und Machen Geschäft mit der Hoffnung Fast hinter jeder Tür lauert ‘n Abgrund Nur damit du weißt, wo ich herkomm‘
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(6) Entweder Metapher für Möglichkeit (Tür=Chance) auf ein besseres Leben, die sich als Enttäuschung entpuppt oder Anspielung auf Vertrauensverlust durch Spionage: „Hinter jeder Tür“ also in jeder Familie lauert „ein Abgrund“ also Spitzel
(7) Referenz zu einer Dokumentation über Trettmann mit dem gleichnamigen Titel |
Alle guten Dinge kommen von oben
Der Zebrafink ist mir zugeflogen (8) Und ab und zu hielt gleich dort wo wir wohnen Ein ganzer Lkw voll mit bulgarischen Melonen (9) Kids aus Übersee waren unsere Ikonen (10)
Und weiße Sneaker mehr wert als Millionen (11) Weiße Sneaker mehr wert als Millionen Weiße Sneaker mehr wert als Millionen
Ich denk‘ heut noch oft zurück an meine Straße An die Alten und die Kids aus meiner Straße Aus der Platte, die aus meiner Etage Man hat uns vergessen dort, Anfang der Neunziger Jahre (12) Desolate Lage, jeden Tag mit der Bagage Frag nicht, was bei mir ging, hing jeden Tag mit der Bagage Neue bunte Scheine sprechen eine eigene Sprache (13) Neue bunte Welt erstrahlt in der Leuchtreklame (14)
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(8) Beliebter Ziervogel in Deutschland, gelten dem Menschen gegenüber als scheu; unklar was Trettmann hiermit gemeint haben könnte, womöglich der überraschende, nicht vorhersehbare Mauerfall, der ihm „in die Hand gefallen“ also „zugeflogen“ ist
(9) Waren aus dem verfeindeten kapitalistischen Westen wurden nicht in die DDR eingeführt, weshalb Melonen ein seltenes Nahrungsmittel darstellten, somit waren Früchte aus anderen Teilen des Ostblocks eine Besonderheit
(10) Durch die hohe Lage des Plattenbaus konnte Trettmann Westradiosendungen empfangen. So wurden die Rapper, Writer und Sportler der westlichen Hemisphäre zu Trettmanns Ikonen
(11) Sneaker gelten als Statussymbol und Zeichen der Zugehörigkeit in der Street Art und Hip-Hop-Kultur; eine Übertreibung, dass Trettmann seine Sneaker nicht für Millionen eintauschen würde; hier also eine mögliche Aussage, dass Lebensgefühl und Zugehörigkeit wichtiger sind als Geld; oder aber Anspielung auf die enorme Wertigkeit westlicher Sneaker in der DDR, sehr selten und somit sehr teuer
(12) Westliche Versprechungen der Wiedervereinigung wurden nicht gehalten und somit kam es bei Jugendlichen während der Wendezeit im Osten zu großer Perspektivlosigkeit; Trettmann beschreibt dieses Gefühl mit dem Begriff des „Vergessen-Werdens“
(13) Gemeint sind hier die neuen bunten Scheine der West-D-Mark, die eine „neue Sprache sprechen“, also für ein neues politisches und wirtschaftliches System mit eigenen Regeln und Werten stehen
(14) Anspielung auf eine neue Lebensrealität der ehemaligen DDR-Bürger nach der Wiedervereinigung und die damit verbundenen Realitäten des Kapitalismus sowie den lauten Versprechungen der Konsum- und Massengesellschaft |
Seelenfänger schleichen um den Block und
Machen Geschäft mit der Hoffnung Fast hinter jeder Tür lauert ‘n Abgrund Nur damit du weißt, wo ich herkomm‘
Seelenfänger schleichen um den Block und Machen Geschäft mit der Hoffnung Fast hinter jeder Tür lauert ‘n Abgrund Nur damit du weißt, wo ich herkomm‘
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Grauer Beton, rauer Jagon
Freiheit gewonnen, wieder zerronnen Auf und davon, nicht noch eine Saison Auf und davon, nicht noch eine Saison
Grauer Beton, rauer Jagon Bilder verschwommen, kehr‘ nicht mehr um Auf und davon, nicht noch eine Saison Auf und davon, nicht noch eine Saison |
Musikvideo: https://www.youtube.com/watch?v=hHT_hEuTtxg