Photo von Dominic Bruegger
„Ich habe es nie geschafft, mir vorstellen zu können wie der [Song] aussehen soll, einfach weil ich auch diese ganzen schrecklichen Bilder die damit verbunden sind – ich glaube nicht, dass man die in irgendeiner Art und Weise besingen oder irgendwie vertonen kann.“[1] -Trettmann
Zweifelsfrei ist es eine der schwierigsten und zugleich größten Aufgaben eines Künstlers, ein Stück über den Holocaust zu verfassen, gerade weil man Größe und Grausamkeit des Verbrechens nicht fassen kann. Man kann es nicht begreifen und sich nicht vorstellen. Jeder, der im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, weiß wovon Trettmann spricht. Man liest Zahlen und Wörter in den Schulbüchern, man besichtigt ein Konzentrationslager, aber man versteht nicht, was passiert ist. Das Wesentliche daran ist nicht begreifbar, nicht greifbar. Man fühlt sich zurückgelassen mit einem Gefühl, das Hannah Arendt beschreibt als ein Gefühl, „über das zu sprechen in der Tat äußerst schwierig und das zu begreifen fast unmöglich ist – vom Horror selbst in seiner nackten Monstrosität.“[2]
So müssen wir uns dem Mut und der Leistung Trettmanns bewusst sein, wenn er in minimalistischer Art und Weise in seinem Stück „Stolpersteine“ über das Thema spricht, über das man nicht sprechen kann, weil die Sprache an diesem Punkt versagt. Gerade deswegen verleiht der angewandte Minimalismus und die Einfachheit der Sprache dem Song eine Demut. Trettmann ist sich der Machtlosigkeit der sprachlichen Mittel bewusst, und versucht auf einfache Art und Weise das zu greifen, das niemand bisher begriffen hat, das niemand jemals greifen kann.
Spätestens die Zeit des Nationalsozialismus hat bewiesen: Der Mensch ist kein Mensch mehr in einem unmenschlichem System. Und dies gilt nicht nur für die Täter, sondern, wenngleich ohne Schuld, auch für die Opfer. In den Schulbüchern liest man zahlen. 6 Millionen. So viele Menschen kann man sich nicht vorstellen. Wo also, zwischen oder hinter den Zahlen, steckt der Mensch? Trettmann kehrt diesen Prozess der Entmenschlichung in einem monströsen und unmenschlichem System um, indem er ein einziges, individualisiertes Opfer betrachtet und beschreibt. So macht er das Opfer wieder menschlich, wir können uns das Leid dieses einen Menschen ein bisschen besser vorstellen. Auch bezieht Trettmann wieder die Vergangenheit auf die Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht vorbei. Wir sind sie. Eine Verantwortung, eine Pflicht, die jeder von uns tragen muss.
Und deshalb ist dieses Lied auch kein einfach zu analysierendes Gedicht, denn es steht für sich. Es versucht das auszusagen, was nicht auszusagen ist.
[1] https://www.youtube.com/watch?v=WOeKsrpBgXg
[2] Hannah Arendt, Über das Böse
Noch unterwegs
Frühmorgens halb fünf, wurde spät Zwei Finger Rum in meinem Glas Zum Runterkommen auf’m Weg[1] |
[1]Trettmann erzählte später, dass dies wirklich so geschehen ist. Auf dem Weg nach Hause sah er eines Nachts vor seinen Füßen einen Stolperstein. So kam ihm die Idee für diesen Song |
Denk an dich heute vom Rave
Würde dich gern wiedersehen Warte mal kurz, bleibe stehen Steine aus Messing[2] auf meinem Weg[3] |
[2] Stolpersteine; ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, der 1992 über 70 000 dieser kleinen Messingplatten verlegte, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken; Auf den Messingplatten sind meist Namen, Geburtsjahr, Deportationsjahr und Ort des Todes eingeprägt. Eines der imposantesten dezentralen Mahnmale der Welt[3] Rückbezug am Ende |
Beug mich nach vorn[4]
Hier wohnte ne Frau mit nem Namen[5] Les‘ Zahlen Geboren in’n 20er Jahren Abgeschoben nach Polen Deportiert April Ermordet in den letzten Tagen |
[4] um zu erkennen, was auf dem Stolperstein steht
[5] Individualisierung des Leids; hier wohnte keine der 6 Millionen Opfer, sondern eine Frau mit Namen, heißt |
Stolpersteine, Stolpersteine
Überall, Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine In meiner Straße, Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine Nächste Haustür, Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine Stolper über, Okay[6] |
[6] Offensichtliche Wiederholung (Repetitio) des Wortes „Stolpersteine“; gemeint sind hier natürlich nicht an sich die Messingtafeln, sondern die Opfer. Überall liegen Stolpersteine, heißt überall herrscht das Leid der großen Anzahl an Opfern |
In meiner Straße Stolpersteine
Vögel singen und ich weine Hier könnt‘ jeder Name stehen Irgendeiner, irgendeiner Doch hier steht deiner[7] Was ist wohl passiert Sie war Mitte 20 |
[7] Hier ist die Individualisierung des Opfers besonders deutlich. Trettmann betrauert, dass jeder Name hier stehen könnte, aber trotzdem der eine Name des Opfers auf der Messingtafel steht. „Irgendeiner, doch warum ausgerechnet du?“ scheint Trettmann hier zu fragen. |
Selbes Alter
Ging sie gern tanzen Königin vom Ballsaal Genau wie du Ja, genau wie du Queen im Club[8] Setz mich hin Vor ihre Haustür Sie ging ein und aus hier Saß sie auch hier |
[8] Hier erstreckt sich die Vergangenheit wieder in die Gegenwart; Trettmann stellt sich die Frau als Tänzerin in einem Nachtclub vor; Mit „genau wie du“ ist klar, was Trettmann intendieren will: „Hier könnte auch dein Name stehen“ |
Hier im Viertel
Wo jeder jeden kennt[9] Stell mir vor Wie sie mir’n Lächeln schenkt Ob es wohl so’n Morgen so wie dieser war Straße menschenleer Als der Wagen kam[10] Reifen quietschen Erste Straßenbahn Alle schauen Doch kein Licht geht an[11] |
[9] Starke Anspielung auf die Behauptung vieler Deutschen, sie hätten von den Verbrechen der Nationalsozialisten „nichts gewusst“. Doch in einem Viertel kennt jeder jeden, so Trettmann. Folglich fällt auf, wenn Nachbarn deportiert werden. [10] Gemeint ist der Wagen zur Deportation in ein Konzentrationslager [11] Entgegen jeglicher Schutzbehauptungen haben die Deutschen von den Verbrechen gewusst. Sie schauten hin, aber kein Licht ging an, man unternahm nichts, sondern gehorchte |
Stolpersteine, Stolpersteine
Überall, Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine In meiner Straße, Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine Nächste Haustür, Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine Stolper über |
Sonne geht auf
Sitz immer noch hier Atme und rauch‘ Was ist passiert Schlingen werden wieder geknüpft Messer wieder gewetzt Nein, nicht woanders Hier und jetzt Der Schoß noch fruchtbar Aus dem das kroch Fruchtbar noch Aus dem das kroch[12] |
[12] Gemeint ist der Machtgewinn rechtsextremer und fremdenfeindlicher Parteien und Gruppierungen in Deutschland, Trettmann zitiert hier die Schlussworte des Epilogs zu dem Parabelstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht. Das im Gangstermilieu von Chicago angesiedelte Stück schildert parabelhaft und durch Übersteigerung verfremdet das Emporkommen und die Karriere Hitlers und seiner Gefolgsleute in der Weimarer Republik, bis hin zur Annexion Österreichs |
Wut will mich fressen
Doch lass mich nicht fressen Denk an uns zwei auf’m Rave Denk an dein Lächeln[13]. |
[13] Zunächst einmal ein Rückbezug auf den Anfang des Liedes (er denkt an die letzte Nacht); Das lyrische Ich schildert seine Wut über das Erstarken der rechten Parteien, ehe es an das Lächeln einer Frau denkt; Trettmann will sich von der aktuell in Deutschland anhaltenden Entwicklung in Richtung rechts nicht herunterziehen lassen und lenkt sich stattdessen mit Gedanken an die vergangene Nacht ab. Die Aussage ist klar: Die Rettung vor der Wut liegt in der Liebe |
Stolpersteine, Stolpersteine
Überall Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine In meiner Straße Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine Nächste Haustür Stolpersteine Stolpersteine, Stolpersteine Stolper über |